Die wirklich wahre Geschichte von Hänsel und Gretel
von Britta Schwarz
Worum geht es?
Das Märchen Hänsel und Gretel von den Gebrüder Grimm wird in dieser Geschichte neu erzählt. Dabei wird das Märchen aus zwei Perspektiven widergegeben. Hänsel beschreibt aus seiner Sicht das Erlebnis der beiden Geschwister und Hexe Samira erzählt die Geschehnisse aus ihrer Sicht, aber ganz anders, als man das Märchen eigentlich kennt. - Wem glauben wir nun?
Wie wird die Geschichte verändert?
Die Geschichte wird aus zwei Perspektiven erzählt. Auf einer Buchseite wird Hänsels Sichtweise wiedergegeben, auf der anderen Buchseite erzählt die Hexe Samira, wie es laut ihr wirklich war.
Diese beiden Sichtweisen stellen die Charaktere im Gegensatz zum Prätext in veränderter Art und Weise dar. In Hänsels Erzählung wirken die Geschwister Hänsel und Gretel selbstbewusst und weniger ängstlich und verunsichert, als man die Kinder aus dem Grimm'schen Original kennt. Die Hexe Samira dagegen beschreibt die Kinder als faul, unerzogen und undankbar. Bei ihr sind die Kinder "böse", sie selbst ist lieb und bemüht sich sehr im Umgang mit den Kindern.
Die Geschichte wird allgemein kindgerechter vermittelt, zum Beispiel ist der Ofen aus, als die Hexe hineingeworfen wird. Hexe Samira wird also nicht verbrannt, sondern bloß eingesperrt. Die Boshaftigkeit der Handlung wird gemindert, z.B.: Über den Moment, als Hänsel und Gretel am Häuschen knabbern, erzählt die Hexe: "'Na wartet', dachte ich mir. 'Euch werde ich erschrecken.'" (Schwarz, 2009, o.S.). Das Wort "erschrecken" ist, im Vergleich zu den Verben und Adjektiven im Prätext, nicht mit bösen Assoziationen belegt. In dieser Passage des Textes wird klar, dass die Hexe Samira keine bösen Absichten hat. Im Prätext dagegen wird deutlich, dass die Hexe die Kinder durch ihr Haus herbeilockt, um sie zu essen. In der vorliegenden Geschichte hat die Hexe Samira nicht vor, die Kinder zu kochen und zu essen.
Es findet eine zeitliche Aktualisierung statt: In der Geschichte kommen Medien, wie der Fernseher oder das Handy, vor, z.B.: "Rasch nahm ich mein Hexen-Handy." (Schwarz 2009, o.S.)
Wie erkennt man die Verbindung zum Prätext?
Die Beziehung zum Märchen Hänsel und Gretel der Gebrüder Grimm ist sehr klar markiert. Das Originalmärchen wird neu erzählt und diesmal aus zwei Perspektiven. Der dem Prätext zugrunde liegende Handlungsstrang wird in Schwarz' Geschichte übernommen.
Im äußeren Kommunikationssystem werden Markierungen durch bekannte Zitate dargestellt. Zum Beispiel:
"Knusper, knusper, knäuschen. Wer knabbert an meinem Häuschen?" (Schwarz 2009, o.S.)
"Der Wind, der Wind, das himmlische Kind!" (Schwarz 2009, o.S.)
Außerdem werden Markierungen im Nebentext zum Beispiel im Titel ersichtlich, in dem die Namen der Protagonisten genannt werden: Die wirklich wahre Geschichte von Hänsel und Gretel. Im Klappentext wird außerdem explizit auf "das berühmte Märchen der Brüder Grimm" (Schwarz 2009: Klappentext) verwiesen.
Eine Markierung im inneren Kommunikationssystem lässt sich ganz zu Beginn des Textes finden. Hier wendet sich Hänsel an die Leserschaft und sagt: "Ich bin Hänsel. Bestimmt kennst du mich und meine kleine Schwester Gretel?" (Schwarz 2009: o.S.). Durch diese Aussage verweist Hänsel auf den Prätext, beziehungsweise auf die Kenntnis des Lesers über den Prätext. Dem Leser soll der Zusammenhang zum Prätext direkt deutlich gemacht werden.
Ansonsten wird die Verbindung zum Prätext dadurch deutlich, dass grob die ganze Handlung übernommen wird.
Das aus dem Prätext bekannte Lebkuchenhaus wird des Öfteren im Buch bildlich dargestellt, auch auf dem Einband. Des Weiteren greifen Hänsel und Samira das Häuschen in ihren Perspektiven auf und beschreiben es jeweils kurz.
Quelle: Schwarz 2009, Illustration: Iris Hardt
Quelle: Schwarz 2009, Illustrtion: Iris Hardt
Ideen für Unterricht
Die Intertextualität des Textes eignet sich gut für die Behandlung im Unterricht, da die Bezüge leicht zu erkennen sind. Allgemein weist diese Geschichte eine starke Intertextualität auf, da der Ursprungstext überarbeitet und aus zwei Perspektiven erneut dargestellt wird. Durch den Perspektivenwechsel und die Veränderung des Prätextes wird ein kritischer Gedanke hervorgerufen: Welche Geschichte empfindet man als glaubwürdig, also welchem Protagonist wird Glauben geschenkt? Diese Thematik eignet sich hervorragend für interessante Unterrichtsgespräche.
Im Fach Deutsch lässt sich die Geschichte mit einem Rollenspiel nachspielen. Eine weitere Unterrichtsidee für dieses Fach besteht darin, dass man eine dritte Perspektive mit der Klasse bespricht, wie zum Beispiel Gretels Perspektive oder wenn man selbst in der Geschichte spielt. Die Geschichte aus einer dritten Sichtweise zu erzählen eignet sich als kreativer Schreibanlass. Des Weiteren lässt sich ein literarisches Gespräch darüber führen, welche Geschichte glaubwürdiger ist und warum.
Im Fach Kunst kann man die Geschichte durch das Basteln im Schuhkarton thematisieren, indem man eine Situation, wie zum Beispiel das Haus der Hexe, bastelt. Dabei kann besonders darauf eingegangen werden, wie die Kinder und die Hexe dargestellt werden, ob böse, freundlich oder faul, je nach dem, wie die Kinder die Geschichte wahrnehmen und welche Perspektive sie als richtig und passend empfinden.
Als Unterrichtsidee im Fach Sachkunde bietet es sich an, mit Hilfe der Geschichte, Regeln, Manieren sowie soziale Umgangsformen in einer Gemeinschaft zum Thema zu machen. Im gemeinsamen Gespräch können Klassenregeln aufgestellt werden und auf einem Plakat festgehalten werden. Die Geschichte kann als Lehre für die Kinder gesehen werden, indem erklärt wird, dass jede Person eine Situation anders wahrnimmt. Dabei kann vor allem auf die verschiedenen Perspektiven einer Geschichte eingegangen werden. Jeder Moment besitzt verschiedene Sichtweisen. Diese Betrachtung und Bewusstmachung der unterschiedlichen Sichtweisen kann in Streitsituationen helfen. Bezüglich der verschiedenen Sichtweisen kann auch das Thema Wahrheit und Lüge thematisiert werden.
Quellen
Schwarz, Britta: Die wirklich wahre Geschichte von Hänsel und Gretel. Wien / München: Annette Betz Verlag 2009.