Rotwölfchen

Amélie Fléchais

Worum geht es?

In der Graphic Novel "Rotwölfchen" geht es um ein kleines Wölfchen, welches von seiner Mutter zu seiner Großmutter geschickt wird, um dieser ein Bündel mit Essen vorbeizubringen. Die Wolfsmutter warnt Rotwölfchen noch nicht vom Weg abzukommen und sich vor den Menschen in Acht zu nehmen. Rotwölfchen macht sich dann vergnügt auf den Weg, lässt sich von Käfern ablenken und läuft unbeschwert vom Weg ab. Als es bemerkt, dass es nicht mehr weiß, wo der Pfad zu seiner Großmutter ist, verzweifelt es. Nach langer Suche nach dem richtigen Pfad bekommt das Rotwölfchen Hunger und isst das für seine Großmutter gepackte Bündel mit Essen. Daraufhin wird es sehr traurig, da es denkt, dass es seine Familie enttäuscht hat. Das weinende Rotwölfchen wird von einem blonden Mädchen angesprochen und davon überzeugt, dass sie ihm Essen für seine Großmutter besorgen kann. Rotwölfchen lässt sich darauf ein und folgt dem Mädchen. Sie landen bei der Hütte des bösen Jägers und Rotwölfchen wird von dem Mädchen in eine Falle gelockt. Rotwölfchen findet sich anschließend in einem Käfig in dem Haus des Jägers wieder und beommt Angst. Das kleine verzweifelte Rotwölfchen kann sich aber immer auf seine Familie verlassen und wird von seinem Vater gerettet. 

Wie sind Bilder gestaltet?

Die Geschichte „Rotwölfchen“ stellt die bildliche Ebene in den Vordergrund, sie lebt von den wundervollen Illustrationen von Amélie Fléchais. Die Aquarellbilder kommen durch die reduzierte Textgestaltung zur vollen Geltung. Die Seiten sind meist ganzseitig aufgebaut, viele der Bilder erstrecken sich aber auch über zwei volle Seiten. Das unterstreicht nochmal das Gefühl, man würde ein Bilderbuch lesen, statt einem Comic. Dabei sind die Bilder sehr pragmatisch aufgebaut, denn Rotwölfchen besteht eigentlich nur aus einem roten Kegel mit Strichen als Armen und Beinen und einem spitzen schwarzen Gesicht. Auch die Hintergründe sind wenig realistisch und erinnern eher an eine Collage. Schön zu sehen ist auch, dass verschiedene Formen und Farben ineinander übergreifen. Ein Baum im Hintergrund vermischt sich mit Rotwölfchens Kapuze. Die Darstellung der Augen- und Mundpartie sind zentral für die Darstellung von Emotionen. Aber auch die Ohren zeigen die Gefühlslage der Figuren.

Der Text ist passend zu den Bildern platziert, wodurch die Bilder mehr Aufmerksamkeit erhalten. Die Bilder unterstreichen, das Erzählte im Text, dadurch herrscht ein symbiotisches Bild-Text-Verhältnis. Die Aquarellbilder arbeiten viel mit der Mimik der Figuren, wodurch das Bilderbuchgenre impliziert wird. Neben dem Text kommen auch verschiedene Formen vor. Mir fällt auf, dass oft Variationen von Dreiecken in dem Buch dargestellt werden. Dies lässt implizieren, dass es meist drei Perspektiven auf einen Sachverhalt gibt. Hier im Beispiel wird Rotwölfchen als gut dargestellt. In Rotkäppchen werden die Menschen als gut dargestellt. Diesen beiden Perspektiven steht eine Sichtweise gegenüber, welche in beiden jeweils etwas Gutes und etwas Böses sieht.

In dem Buch wird sehr viel Stimmung durch die Bilder erzeugt. Die Farben im Hintergrund verändern sich während der Geschichte parallel zum Text und unterstreichen die erwünschte Atmosphäre. Das Buch beginnt mit einer heiteren Stimmung, die Farben sind hell und freundlich gewählt. Je näher Rotwölfchen zum Haus des Jägers kommt, desto dunkler und kälter werden die Farben und die Gestaltung des Waldes. Das Haus des Jägers ist komplett dunkel und schwarz dargestellt (vgl. unten). Nach der Rettung von Rotwölfchen werden die Farben wieder freundlicher und wärmer. Auch in den zwei Lieder wird viel mit der Farbwahl gespielt, um verschiedene Stimmungen hervorzurufen. Auch die verschiedenen Lichtakzente werden passend zu den Textstellen eingebracht. Licht wird vor allem durch die natürlichen Lichtquellen, Sonne und Mond, dargestellt. Atmosphärisch setzt Amélie Fléchais ihren Text in Bilder um, die genau die Wirkung erzielen, die eine Szene suggerieren soll.

Rotwölfchen im Wald

Quelle: Fléchais, Amélie (2021): Rotwölfchen. o.S.

Rotwölfchen im Haus des Jägers

Quelle: Fléchais, Amélie (2021): Rotwölfchen. o.S.

Die Bildsprache wird gleichzeitig an Kinder wie auch an Erwachsene adressiert. Die Bildergestaltung begrenzt sich nicht nur auf eine Altersgruppe, dies lässt auch die Message des Buches erschließen. Diese Graphic Novel führt einem vor Augen, wie voreingenommen wir durchs Leben gehen und wie viel wir noch entdecken können, wenn wir mit offenen Augen und offenem Herzen den Tag angehen. Jede Geschichte hat immer mindestens zwei Seiten und wir müssen lernen, auch die anderen Seiten als die eigene wahrzunehmen. Diese Geschichte zeigt das auf kindgerechte Weise, die auch Erwachsene zum Denken anstößt.

Wie wird die Geschichte verändert?

Mit ihrer Graphic Novel „Rotwölfchen“ interpretiert Amélie Fléchais, frei nach Charles Perrault, dessen Geschichtensammlung den Gebrüdern Grimm als Vorlage diente, eines der bekanntesten Märchen. Die Geschichte bleibt im Grunde genommen, die alte. Die Vorlage von Charles Perrault dient damit als Prätext, dies wir auch von der Autorin selbst erwähnt „Inspiriert von Charles Perraults Märchen Rotkäppchen" (Fléchais, 2021). Die Feindschaft zwischen Menschen und Tieren, Gut und Böse und doch ist diese zwar weniger grausam, aber nicht weniger traurig als das Märchen vom Rotkäppchen. Die typischen Rollen werden gier vertauscht und ein blondes Mädchen ist das Sinnbild des Bösen und das Wölfchen ein Symbol für Naivität und des Guten. Das Klischee das Böse auch böse aussehen wird hier nicht bedient. Die auffälligste Abweichung ist der Titel, welcher auch mit der starken Farbe Rot spielt. Darüber hinaus ersetzt das Wölfchen schon im Titel das Rotkäppchen und zeigt, um wen es in dieser Geschichte geht. Trotz dessen wird auf das Märchen „Rotkäppchen“ hingewiesen, diese Transformation ist auch für Kinder sehr offensichtlich. Weiterhin dreht sich die Geschichte ebenfalls um die Figuren, der Großmutter, der Mutter und dem Jäger. Diese Figuren kommen auch in Rotkäppchen vor, somit ist die Figurenkonstellation gleich. Dabei sind jedoch die Charaktereigenschaften teilweise verändert worden. Zum Beispiel wird das Wölfchen, sowohl bildlich wie auch im Text, freundlich, naiv und gutherzig dargestellt. In Rotkäppchen wird immer nur von dem bösen Wolf gesprochen. Die Handlungsstruktur ist teilweise übernommen, nur die Figuren haben die Seite gewechselt und verfolgen eine andere Intention. Eine Abweichung ist auch ein Ort im Buch, und zwar das Haus des Jägers. Dies stellt einen zentralen Wendepunkt dar, welcher in dem Präfix so nicht existiert. Die Geschichte ist auch nicht in eine andere Zeit übertragen, ebenfalls bleibt die Welt der Geschichte eine fiktive Märchenwelt. Eine weitere Abweichung ist die Message, sie wird durch das gesamte Buch darstellt.


Wie erkennt man die Verbindung zum Prätext?

Zum einen ist die Geschichte und dessen Handlung sehr nah an der Handlung des Prätextes. Es geht um eine naive Hauptfigur, welche sich von einem Fremden zu etwas überreden lässt, wodurch sich die Hauptfigur in eine gefährliche Situation begibt. Anschließend muss die Hauptfigur von jemanden gerettet werden. Durch diesen Handlungsstrang ist für Kinder ersichtlich, dass es sich um eine Märchenadaption von Rotkäppchen handelt. Zum anderen suggeriert der Titel, als Paratext auf dem Cover, die Verbindung zum Prätext. Darüber hinaus gibt es Übernahmen der Figurennamen, wie von der Großmutter, der Mutter und dem Jäger. Auf Seite 10 gibt es eine Verbindung, die auch in Rotkäppchen verwendet wird: „Singend machte es sich auf den Weg.“ (Fléchais, 2021). Singend machte sich Rotkäppchen im gleichnamigen Märchen ebenfalls auf den Weg zu seiner Großmutter. Auch die Verniedlichung „Rotkäppchen“ und „Rotwölfchen“ stellen eine Verbindung da. In Rotkäppchen wir das Mädchen sehr niedlich und klein dargestellt. Und genau darauf greift Amélie Fléchais auch bei „Rotwölfchen“ zurück: „Das Wölfchen nickte ein zweites Mal. Dabei stellt es sich zwei monströse Menschen mit fetten gekrümmten Fingern vor, die kleine Wölfe gierig verschlangen.“ (Fléchais, 2021). Darüber hinaus stellt die Autorin auch die Hautfigur als schwach da, ebenfalls wie Rotkäppchen. „Erschöpft von all diesen Spielereien hielt es für einen Moment inne“ (Fléchais, 2021), hier wird ein kleines, schwaches und kindliches Wölfchen dargestellt, aber nur innerhalb der Textgestaltung.

Der Titel, welche als Paratext auf dem Cover dargestellt ist, wird innerhalb der Geschichte zum Namen der Hauptfigur, wodurch eine Verbindung zum Prätext konstant in der Handlung etabliert wird. Die Verbindung zum Prätext wieder auch von der Amélie Fléchais selbst im Buch erwähnt, „Inspiriert von Charles Perraults Märchen Rotkäppchen“ (Fléchais, 2021).

Auf der Bildebene wird der rote Mantel von Rotwölfchen aufgezeigt, dieser wird nicht explizit als Mantel wie in Rotkäppchen erwähnt. Es wird nur im Text gesagt, dass Rotwölfchen stets in Rot gekleidet ist.

Rotwölfchen im roten Mantel.

Quelle: Fléchais, Amélie (2021): Rotwölfchen. o.S.


Quellen