Theorie

Was ist Intertextualität?

Als Intertextualität bezeichnet man allgemein ein Verhältnis zwischen Texten. Es gibt unterschiedliche Meinungen, wie dieses Verhältnis genau aussehen kann und welche Texte intertextuelle Beziehungen aufweisen. Einige Wissenschaftler*innen vertreten das weite Verständnis von Intertextualität und behaupten, dass alle Texte miteinander verbunden sind, auch wenn die Autor*innen diese Verbindung nicht beabsichtigt haben. Andere Wissenschaftler*innen verstehen unter Intertextualität die Besonderheit einzelner Texte und meinen, dass die Intertextualität nur dann vorkommt, wenn die Autor*innen sich nicht nur der Verwendung anderer Texte bewusst sind, sondern auch von den Leser*innen erwarten, dass diese Beziehung zwischen seinem Text und anderen Texten erkannt werden.

Im Folgenden wird basierend auf dem Buch Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien von Ulrich Broich und Manfred Pfister der Versuch dargestellt, zwischen beiden Verständnissen zu vermitteln. Laut diesem Modell sind zwar alle Texte miteinander verbunden, die Beziehungen können aber unterschiedlich stark sein.

Diese intertextuellen Bezüge kann man anhand von qualitativen und quantitativen Kriterien beschreiben. Wenn mehrere Kriterien im Text vorkommen, ist die intertextuelle Beziehung sehr stark. Die Kriterien zeigen auch, wie unterschiedlich die intertextuellen Beziehungen sein können.

Qualitative Kriterien

  1. Wie stark thematisiert, kommentiert oder interpretiert der eine Text den Prätext? (Referentialität)

  2. Hat die Autorin / der Autor den Bezug zum anderen Text bewusst und beabsichtigt verwendet? Sind die Bezüge klar markiert, damit die Leser*innen sie erkennen können? (Kommunikativität)

  3. Thematisiert die Autorin / der Autor das Verhältnis von dem Text und Prätext? Wird es erklärt, problematisiert oder begründet, warum und wozu sich der Text sich auf einen anderen Text bezieht? (Autoreflexivität)

  4. Wird die ganze Struktur vom Prätext übernommen oder gibt es die Beziehung nur an einer Stelle im Text? (Strukturalität)

  5. Wie prägnant ist das ausgewählte Element aus dem Ursprungstext? (Selektivität)

  6. Wie stark stehen der ursprüngliche und der neue Text in Spannung zueinander? (Dialogizität)

Quantitative Kriterien

  1. Wie viele Bezüge gibt es im Text und wie oft kommen sie vor?

  2. Auf wie viele Texte wird verwiesen und wie unterschiedlich sind diese Texte?

Wie erkennt man Intertextualität?


Intertextuelle Bezüge sind oft für das Verständnis des Textes wichtig. Deswegen wollen die Autor*innen meistens, dass die Leser*innen diese Beziehungen erkennen. Sie können ihnen dabei helfen, indem die Bezüge klar gekennzeichnet sind, das passiert aber nicht immer. So wird grundsätzlich zwischen nicht-markierter und markierter Intertextualität unterschieden.


Nicht-markierte Intertextualität

  • Es ist die Entscheidung des Autors, ob er seine Leserschaft über vorliegende Intertextualität informiert

  • Oft werden Verweise nicht markiert, wenn die Prätexte dem Zielpublikum bekannt sind wie die Bibel oder die Klassiker

  • Manchmal verzichten die Autor*innen auf die Markierungen, dass die Leser*innen Spaß haben, die Bezüge selbst zu entdecken

Markierte Intertextualität

  • Intertextualität kann durch "Intertextualitätssignale" (siehe "Formen der Markierung") gekennzeichnet werden

  • Die Signale können stärker oder schwächer ausfallen

  • Objektive Kriterien sind zum Beispiel

    • Wie viele Markierungen gibt es?

    • Wie eindeutig ist die Markierung und wo befindet sie sich? (z.B. eine Markierung im Titel sieht man sofort, sie kann aber erst im Nachwort "versteckt" sein)

  • Bei erfahrenen Leser*innen liegt die Schwelle für das Erkennen von Markierungen deutlich niedriger als bei Gelegenheitsleser*innen

Formen der Markierung

Markierungen im Nebentext


Oft befinden sich die Markierungen nicht in der Geschichte selbst, sondern in den Nebentexten, z.B.

  1. im Titel oder Untertitel

Diese Möglichkeit wird am häufigsten verwendet, um den Intertextualitätsbezug zu kennzeichnen!

  1. in einer Fußnote

  2. im Motto, Vorwort, Nachwort des Autors oder Klappentext

    • in Tintenherz stellt Cornelia Funke sehr oft Zitate aus anderen Büchern als Mottos für einzelne Kapitel

  3. in einem Interview zu dem Werk oder in den Briefen

    • so schreibt Paul Maar in einem Aufsatz "Und ich denke auch, dass in Der Tag, an dem Tante Marga verschwand wenigstens ein paar Kinder in dem altertümlich gekleideten Mädchen, das hinter dem Spiegel wohnt, Carrolls Alice wiedererkennen und den großen Affen, der Tante Marga so rüde raubt, als King Kong identifizieren" (Maar 2007: 172)

  4. manchmal wird der Prätext direkt neben dem Text abgedruckt (z.B. bei den Übersetzungen)


Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Bezug auf einen Prätext im Titel zu markieren:

  1. Der Name des Protagonisten aus dem Prätext im Titel verwenden

    • Durch den Filmtitel Rapunzel neu verföhnt wird auf die Protagonistin des Prätextes verwiesen

  2. Der Titel des Textes stimmt wörtlich mit dem Titel des Prätextes überein

    • Der Titel des Thrillers Aschenputtel von Kristina Ohlsson stimmt mit dem Titel des Prätextes überein

  3. Im Titel bekannte Zitate aus Prätexten verwenden

    • im Filmtitel Spieglein Spieglein – Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen ist die Markierung doppelt - durch Zitat und Namensnennung

  4. In Titel oder Untertitel eines Textes Bezug auf eine ganze Gruppe von Prätexten markieren, beispielsweise um dem Leser den Bezug auf eine literarische Gattung zu signalisieren

    • In dem Buch Janosch erzählt Grimms Märchen wird im Titel der Bezug zu der literarischen Gattung Märchen sichtbar.



Markierungen im äußeren Kommunikationssystem


Markierungen im äußeren Kommunikationssystem sind dadurch gekennzeichnet, dass lediglich der Leser die intertextuellen Bezüge wahrnehmen kann, während Charaktere des Textes sich dieser nicht bewusst sind. Häufig, aber nicht notwendigerweise, ist diese Art der Markierung weniger stark oder offensichtlich.


Im Folgenden sind vier verschiedene Arten der Markierungen im äußeren Kommunikationssystem mit Beispielen aufgeführt:

  1. Auswahl der Namen

  • Grindelwald (In Phantastische Tierwesen und Harry Potter)

  • Bilbo Beutlin (In Hobbit und Herr der Ringe)

  1. Verwendung von Anführungszeichen, andere Drucktypen, Schriftbild → Stilkontraste

  1. Einmalige Markierung von Intertextualität, auf welche im weiteren Textverlauf verzichtet wird

  2. Analogien zwischen Szenen → Der intertextuelle Bezug wird nicht explizit markiert, aber als deutlich erkennbar herausgestellt

  • Gleiche Szenerie in den Büchern Hobbit und Herr der Ringe

  • Teilweise thematische Übereinstimmung in Küss den Wolf: Rotkäppchens zauberhafte Lovestory und Rotkäppchen



Markierungen im inneren Kommunikationssystem

Wenn die Figuren im Text über die Beziehung zu dem Prätext Bescheid wissen, handelt es sich um intertextuelle Bezüge im inneren Kommunikationssystem. Sie können auch auf unterschiedliche Art und Weise markiert werden.

1. Offensichtlich wird es, wenn der entsprechende Bezugstext in einem Buch auftaucht und dessen Titel oder Autor*in genannt werden:

2. Die Autorin / der Autor kann Figuren aus bestehenden Werken auftreten lassen und in die Handlung einbinden:

  • Sofies Welt (Jostein Gaarder): Sofie begegnet dem Bären Puh und spricht mit ihm über ihre Identität

  • Tintenherz (Cornelia Funke): Figuren wechseln von der “Buchwelt” in die “reale Welt”

3. Ein eher versteckter Hinweis hingegen ist ein Text, der von den Figuren eines Buches gelesen oder thematisiert wird, dessen Herkunft den Lesenden aber nicht genannt wird:

  • Der gestiefelte Pinocchio (Luigi Malerbas): Malerbas' Pinocchio kennt die literarische Figur des Pinocchio

Die Besonderheit aller dieser Formen liegt laut Broich darin, dass die “Charaktere eines literarischen Textes andere Texte lesen, über sie diskutieren, sich mit ihnen identifizieren oder sich von ihnen distanzieren” (Broich 1985: 39).

Zwischen welchen Texten gibt es intertextuelle Beziehungen?


Einzeltextreferenz

Man spricht von Einzeltextreferenz, wenn Autor*innen in ihren Texten durch eindeutige und direkte Verweise auf bestimmte, vorangegangene Einzeltexte anderer Autor*innen – sogenannte Prätexte – Bezug nehmen.


Dies kann man beispielsweise in dem Jugendroman Küss den Wolf: Rotkäppchens zauberhafte Lovestory von Gabriella Engelmann beobachten, der deutlich auf das Märchen Rotkäppchen nach den Gebrüdern Grimm verweist.

Zum Beispiel hat die Protagonistin, Pippa, den Spitznamen Rotkäppchen. Ihre Großmutter ist eine gelernte Kostümbildnerin und Hutmacherin und schenkt Pippa ständig rote Kappen, Hüte oder Mützen, daher kommt der Spitzname.

Außerdem beginnt der Roman mit einem direkten Zitat aus dem Märchentext von Gebrüdern Grimm.


Systemreferenz

Bei Systemreferenz wird der Begriff der Intertextualität weiter gefasst als bei Einzeltextreferenzen, da sich nicht auf einen einzelnen Prätext bezogen wird. Ein Text bezieht sich auf eine Gruppe von Texten oder die Gesamtheit aller Texte z. B. einer Gattung. Demnach bezieht sie sich nicht auf Figuren oder Orte, sondern (nach Pfister) auf sprachliche oder versprachlichte Systeme, zum Beispiel:

  • sprachliche Codes und das Normensystem der Textualität

  • allgemeine Diskurstypen (z. B. religiöse, philosophische, wissenschaftliche oder politische)

    • beziehen sich entweder auf einzelne Passagen

    • oder überformen den Text als Ganzes

  • literarische Schreibweisen/Diskurstypen (Genette bezeichnet das als Architextualität)
    Beispiel: "Es war einmal..."

  • Archetypen und Mythen

Zusammenfassender Hinweis für die Analyse der Intertextualität eines Textes:

Für die Analyse eines Textes hinsichtlich der Intertextualität sollten die Einzeltext- und Systemreferenz zwar grundsätzlich als voneinander trennbare Phänomene gesehen werden, ihr gemeinsames Wirken bei dem Aufbau eines Textes ist jedoch hervorzuheben.

Wenn Sie mehr über Intertextualität wissen wollen

Im Online-Lexikon für poetische Verfahren finden Sie einen ausführlicheren Beitrag zum Thema Intertextualität. Auf der Seite der Benaderingen Letterkunde sind Ansichten von unterschiedlichen Theoretiker*innen zum Thema dargestellt.

Neben dem Ansatz von Ulrich Broich und Manfred Pfister, der auf dieser Seite vorgestellt wurde, ist die Theorie von Gérard Genette eine der bedeutendsten Abhandlungen über die Beziehungen zwischen den Texten. Auf der Seite von Uni Wuppertal finden Sie übersichtliche Zusammenfassungen von beiden Theorien.

Im wissenschaftlichen Internetportal für Kinder- und Jugendmedien bietet Dr. Andreas Wicke eine schöne Übersicht über Intertextualität in Kinder- und Jugendbücher. Intertextualität in einzelnen Werken der Kinder- und Jugendliteratur ist leider relativ wenig erforscht, einen lesenswerten Beitrag gibt es jedoch zu den Texten von Michael Ende, Cornelia Funke und Walter Moers. In einem Artikel analysiert Dr. Andreas Wicke Paul Maars Eine Woche voller Samstage und stellt die didaktischen Möglichkeiten der intertextuellen Literaturunterricht vor.


Quellen

  • Broich, Ulrich; Pfister, Manfred: Intertextualität: Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Berlin: de Gruyter 1985.

  • Maar, Paul: Vom Lesen und Schreiben. Reden und Aufsätze zur Kinderliteratur, Hamburg: Oetinger 2007.