Genderaspekte in Märchen

Dass Genderaspekte in Märchen eine tragende Rolle spielen, zeigt sich bereits dahingehend, dass neue Märchen, Modernisierungen und Aktualisierungen von Märchen, Genderaspekte, darunter fassend Zuschreibungen bezogen auf das soziale Geschlecht, thematisieren, kritisieren und/oder umwandeln. Als Beispiel dafür sind das Bilderbuch "Schneewittchen und die Sieben Zwerge" von Stephan Kalinski und Ian Botterill, ebenfalls zeitgemäßere Disney-Verfilmungen, wie "Frozen" oder "Küss den Frosch" zu nennen. In den originalen Vorlagen kristallisiert sich oft heraus, dass weiblich dargestellte Menschen bestimmte Rollen einnehmen. So zeichnen sich dort Mädchen und Frauen durch Eigenschaften wie "Schönheit, Selbstlosigkeit, Mitgefühl, Bescheidenheit, Schweigen, Treue, Gehorsam, Passivität und Demut" (Lehnert 1996, S. 7) oder "Hässlichkeit, Stolz, Egoismus, Neugier, Eitelkeit, Herrschsucht" (Lehnert 1996, S. 8.)  aus. Die dabei "gut" behafteten Figuren, erhalten zumeist ebenfalls zum Ende des Märchens einen Mann und eine Hochzeit, mit der alle "ihre Probleme für immer gelöst sein werden" (ebd.). Dass es mit Blick auf die Gleichstellung von Mann und Frau gilt, dieser Wertevorstellung etwas entgegenzusetzen, wie es den neueren Märchen der Fall ist, wird mit Blick auf aktuelle Debatten um Geschlechtsvorstellungen und ihnen folgenden Bewegungen besonders evident. Vor dieser Aufgabe steht dabei ebenfalls die Schule, die sich der Diskrepanz zwischen der Geschlechtervorstellungen annimmt. In dem Erlass der nationalen KMK von 2016 zur "Sicherung der Chancengleichheit", wird so beschrieben, dass im Schulwesen "Bildungsangebote gezielt in einer Weise zu gestalten [sind], dass geschlechterbezogene Benachteiligungen aufgelöst bzw. vermieden werde". Ebenfalls soll die  "Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern auf allen Wirkungsebenen des Schulwesens [...] veranker[t werden]" (KMK, 2016, o.S).  Es stellt sich die Frage, wie das mit Märchen im Deutschunterricht didaktisch auszuarbeiten wären. 

Eine tragende Möglichkeit wäre hierfür, wie oben in den Beispielen beschrieben, Geschlechtsbilder innerhalb der Texte im Unterricht zu hinterfragen. Es wäre möglich, mit "Schülerinnen und Schüler über literarisch vermittelte Geschlechterbilder und -verhältnisse mit zunehmender Komplexität ins Gespräch [zu]kommen und Einblicke [...] in historisch und kulturell variierende geschlechtlich gebundene Wissensbestände und Handlungsmuster [zu bieten]" (Tholen, Stachowiak, 2012, S. 108). Nachgehend,  "vor allem mithilfe von Konzepten des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts"(ebd.) besonders in kreativer Form aus dem Spannungsfeld zwischen tradierten und neuen Rollenbildern mit Schüler*innen Unterschiede und Schlüsse herauszuarbeiten.

Als Folgeschritt könnte dies bewirken, dass Schüler*innen selbst "an den kulturellen Diskursen über Geschlecht und Identität teilnehmen [...]" (Tholen, Stachowiak 2012, 108).  Besonders vereinbaren würde sich dies mit Hirschauer geprägten "undoing Genders"- Theorem. Undoing Gender versucht dabei, "ein Indifferenzverhältnis [herzustellen], das Praktiken und Strukturen entkoppelt, sodass Geschlecht schlicht nicht dauerhaft stattfinden, (Hirschauer, 2016, S. 117). Im Unterricht könnte somit verstärkt versucht werden, die "Mehrschichtigkeit und Widersprüchlichkeit von Grenzziehungen zwischen den Geschlechtern […] wahr[zunehmen]" (Gildemeister, Henricks, 2012, S. 307). Daraus ergebend wäre denkbar, dass Lehrkräfte der Unterscheidung zwischen den Geschlechtern weniger soziale Konsequenzen bieten und sie inhaltlich entleeren (vgl. ebd.). Der Unterricht mit Märchen könnte so mit Fragen gestalten werden, wann die Differenzlinien und Markierungen der Geschlechtsidentitäten überhaupt sinnvoll erscheinen, und somit ein Verhältnis zu schaffen, in dem Kleidung, Verhalten, Darstellung, aber auch Eigenschaften, die interpretiert werden, wie mutig, einfühlsam, klug, sensible auch in Märchen nicht Geschlechtsidentitäten gekoppelt sind.

Unterrichtsansatz I 

[Primarstufe, 3./4. Klasse]

Zum Einstieg in die Unterrichtseinheit wird gemeinsam das Buch „Schneewittchen und die sieben Zwerge – neu erzählt“ aus dem Fairy Tales Retold Verlag gelesen, beziehungsweise angeschaut. Da es sich hierbei vorrangig um die schönen Illustrationen handelt, könnte man überlegen, das Buch unter eine Kamera - Beamer Konstruktion zu halten, Exemplare kopieren oder einfach im Sitzkreis rumgeben, so wie es in der jeweiligen Schule möglich ist.

Die Geschichte wird nun in Ruhe vorgelesen und die dazugehörigen Bilder angeschaut. Da es sich hierbei um eine Neuerzählung handelt, wird es mit Sicherheit Kinder geben, die das ursprüngliche Märchen der Gebrüder Grimm bereits kennen und ihre Vergleiche oder ähnliches direkt mit einbringen möchten, dies soll jedoch erstmal für sich behalten werden.

Nachdem das Buch zu Ende gelesen ist, sollen die Kinder im Unterrichtsgespräch anhand folgender Leitfragen über die Geschichte reden:

1.   Was sind denn eure ersten Gedanken zu der Geschichte? Sicherlich kennen einige von euch eine etwas andere Version von Schneewittchen und die sieben Zwerge?

In diesem Zuge werden mit Sicherheit einige Gedanken und Vergleiche der Kinder aufkommen. Der Fokus sollte jedoch auf zwei Aspekte gelenkt werden: 1. Der Unterschied, dass es in der Originalversion um die Schönste im Land und in der neuen Version um die Mutigste im Land geht und 2. Dass Schneewittchen bei den sieben Zwergen in der Originalversion den Haushalt macht und in der neuen Version ihre Zeit so verbringt, wie sie es mag und den Zwergen sogar etwas beibringt und ihnen Aufgaben erteilt. Weitere Fragen könnten hierzu sein:

2.   Wo ist denn der Unterschied, ob man nun die Schönste oder die Mutigste im Land ist? Was glaubt ihr denn, wieso es in der neuen Version um Mut geht?

3.   Was macht Schneewittchen denn in der neuen Version, während die sieben Zwerge arbeiten gehen?

--> Hierbei geht es besonders darum, dass Schneewittchen sich mit den Tieren aus dem Wald trifft und den Tag selbstbestimmt durchlebt und nicht wie im ursprünglichen Märchen den Haushalt erledigt.

Im Folgenden geht es in eine Schreibaufgabe, die von den Kindern auch in Partnerarbeit durchgeführt werden kann. Hierzu wird zuerst das Märchen der Gebrüder Grimm ausgeteilt und gemeinsam gelesen. Jetzt sollen die Kinder auf bunte Zettel Charaktereigenschaften und für sie herausstechende Handlungen von Schneewittchen aus beiden Versionen aufschreiben. Diese werden danach gemeinsam an der Tafel gesammelt, sprich auf der einen Seite alle Eigenschaften aus der originalen Version und auf der anderen Seite aus der neuen Version. Die Lehrkraft kann hierbei die Kärtchen schonmal grob so anordnen, dass sich direkte Gegensätze auf einer Ebene befinden.

Dann dürfen die Kinder überlegen und äußern, was ihnen bei dieser direkten Gegenüberstellung auffällt. Zudem sollen sie sich überlegen, welche Beschreibung ihnen mehr zusagt und weshalb die andere nicht. In diesem Verlauf soll darauf eingegangen werden, welches Rollenbild die Kinder von den zwei Versionen von Schneewittchen bekommen.

In einem weiteren Schritt könnte man die Klasse aufteilen. Die eine Hälfte bekommt die grimmsche Version zugeteilt, die andere die neue Version. Es soll ein Brief an Schneewittchen geschrieben werden, in dem die Kinder ihr schreiben, was sie gut an ihrem Verhalten finden oder was sie ihr raten würden zu ändern, sich nicht gefallen zu lassen, ihr Komplimente geben, etc. Dies kann dann vorgelesen werden.

Unterrichtsansatz II

[Primarstufe 4. Klasse]

Zu Beginn der Unterrichtseinheit wird das Märchen „Schneewittchen“ beziehungsweise „Sneewittchen“ von den Gebrüdern Grimm mit den Kindern gelesen und besprochen. Dies kann mit einer für die Klasse passenden Sozialform geschehen. Anschließend wird eruiert, ob bestimmte Teile des Märchens „seltsam“ sind. Mit „seltsam“ sind hier genderuntypische Rollenverteilungen und Eigenschaften gemeint.

Danach folgt eine Betrachtung eines Bilderbuches, in dem die Geschlechter getauscht wurden. Im Anschluss dieses Schrittes soll im Gespräch herausgearbeitet werden, dass dieses „neue“ Märchen nun „seltsam“ beziehungsweise nicht mehr passend klingt. Da es beispielsweise eher untypisch ist, dass ein älterer Mann einem Jüngling die langen Haare kämmt oder ein Mann einen Schnürriemen trägt. 

Diese Erkenntnis wird als Anlass genommen, um mit den Kindern über die Thematik des Genders beziehungsweise der Genderrollen zu reden. Des Weiteren wird herausgearbeitet, dass diese in vielen Märchen eine regelrechte Omnipräsenz besitzt, derer wir uns nicht immer bewusst sind. Das liegt daran, dass wir solche Thematiken oft als gegeben annehmen und uns nur dann Gedanken darüber machen, wenn wir aktiv darauf hingewiesen werden.

In einem letzten Schritt kann das Märchen umgeschrieben werden, um es mit den neuen Genderrollen passender zu gestalten. Zum Beispiel wird so aus „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Schönste im ganzen Land?“ zu „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Stärkste/Muskulöseste/Kräftigste im ganzen Land“. Jedoch muss hier auch thematisiert werden, dass dies die typischen Genderrollen bedient und kritisch gesehen werden sollte. 

Zusätzlicher Gedankengang: In einer höheren Klassenstufe könnte der letzte Punkt dadurch ersetzt werden, dass das Schreiben eines genderneutralen Märchens angeleitet wird. Dies Märchen müsste dann wiederum sowohl für eine männliche als auch eine weibliche Schneeperson und anderweitige Figuren im Märchen gelten. Dies würde somit den derzeitigen Stand des Genderdiskurses widerspiegeln und behandeln. Da eine solche Vorgehensweise jedoch wesentlich abstrakter ist und mehr Feingefühl erfordert, ist sie nicht für die Primarstufe zu empfehlen, sondern ist eher am Ende der Sekundarstufe I beziehungsweise am Anfang der Sekundarstufe II anzuordnen.

Weitere passende Gegenstände 


In diesem Film wird ein klares Frauenbild vermittelt, bei dem diese auf das Äußerliche reduziert werden und den Mann zu bekommen, das größte Ziel ist. Dies kann mit der Klasse kritisch betrachtet und diskutiert werden.


Auch hier wird dieses Frauenbild vermittelt. Zusätzlich kommt hier hinzu, dass die Frau ihre Stimme nicht "braucht", sondern ihr Äußeres komplett ausreichen ist. Dies ist wiederum der Ansatzpunkt für einen kritischen Vergleich zu heutigen Ansichten und gesellschaftlichen Vorstellungen der Frau.


Bei dieser Rapunzeladaption werden verschiedene Frauenbilder vermittelt. Einerseits das von der "Mutter", die Rapunzel im Turm halten will und ihr deshalb die Grausamkeiten und Ängste der Außenwelt beschreibt und andererseits das der taffen und auf sich alleingestellten Rapunzel, die keinen Mann braucht, der sie beschützt. Dies steht im starken Kontrast zu dem Primärtext und kann somit in einem Vergleich der beiden Frauenbilder genutzt werden und anschließend als Diskussion genutzt werden, welchen Frauenbild passender zur heutigen Zeit ist.


Quellen