Narrationsmuster in Märchen 

Der Ausdruck „narrativer Text“ meint zunächst einmal lediglich eine Erzählung. Diese hat Einfluss auf die Art und Weise wie die Umwelt durch den Rezipienten bei dem Lesen dieses Textes wahrgenommen wird. Narrative Texte, beispielsweise in der Gestalt von Märchen, transportieren häufig Werte und Emotionen und können kulturspezifisch sein (Scharfenberg, 2011). Demzufolge unterliegen Erzählungen beziehungsweise Narrationsmuster dem zeitlichen Wandel und gesellschaftlicher Umbrüche, die das Werteverständnis einer Generation maßgebend prägen. Der narrative Charakter von Märchen scheint eine prägende Wirkung auf den oder die LeserIn zu haben. Nach Lorenz erinnern sich Erwachsene meist sehr deutlich an Märchenerzählungen aus ihrer Kindheit (2008). Dies mag zum einen an der speziellen Erzählform (Narration) liegen, andererseits beinhalten Märchen in ihrer Aussagekraft, wie oben bereits angedeutet, eine erzieherische Funktion, die die Wertevorstellung und Handlungsausübung der RezipientInnen beeinflussen kann (Lorenz, 2008).

Ein tieferer Blick auf die inhaltliche Ausgestaltung von Märchen kann zudem zeigen, dass narrative Erzählungen und die damit verbundene Wertevermittlung im Rahmen von Übersetzungen, kulturellen Anpassungen unterliegen, je nachdem, in welchem Kulturkreis oder Land diese zum Tragen kommen. Lorenz greift in seiner Ausarbeitung einen Vergleich von neun Märchen auf, die nach ihrer Übersetzung auf eine etwaige Anpassung vermittelter Werte hin untersucht wurden (2008). Beispielsweise sei hier zu nennen, dass in der russischen Übersetzung Wertevorstellungen wie Herzlichkeit, Güte und Gastfreundschaft vermittelt wurden, während im deutschsprachigen Raum auf Höflichkeit, Ordnung und Respekt verwiesen wurde (Lorenz, 2008).

Alltagssprachlich umfasst der Begriff zunächst, eine Norm die reproduziert wird.  In Bezug auf die Narrationsmuster in Märchen bedeutet dies eine literarische Form, in welcher Märchenerzählungen verfasst werden. Folgt man diesem Musterbegriff in die Vergangenheit, lässt sich feststellen, dass diese Muster im frühen Rhetorikunterricht als Vorlagen pragmatischer oder literarischer Texte dienten sowie für die Aneignung formaler Eigenschaften, für Imitationen oder der Übernahme inhaltlicher Ideen und weltanschaulicher Vorstellungen fungierte (vgl. Ludwig 1988; Haueis 1995). Auch im traditionellen Aufsatzunterricht ging (und geht) es darum, Texte nach Mustervorgaben zu schreiben – dem Prototyp einer Textsorte entsprechend. Bei der schulischen Vermittlung scheinen prototypische Merkmale einer Textsorte Orientierung zu bieten, sie haben aber auch eine normierende Wirkung (Schüler, 2019).

Exemplarisch kann auf die Bedeutsamkeit von Märchen innerhalb der Aufklärung Bezug genommen werden, um an jenem Beispiel darzulegen, wie Narrativität als Funktion dienen kann. Im Rahmen der Aufklärung vermitteln Märchen unter anderem das Narrativ der Verwundbarkeit (Breithaupt, 2017). So wird in Volksmärchen häufig einerseits auf die Verwundbarkeit, im Rahmen von dem Bestehen von Gefahr und der Rettung, des Menschen verwiesen, während andererseits die Belohnung, derer die es verdient haben beschrieben wird. Durch das Zusammenführen dieser beiden Erzählstränge steht am Ende des Märchens die Aussage, dass die Bereitschaft zur Verwundbarkeit in sich die Berechtigung zur Belohnung ist (Breithaupt, 2017).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Narrationsmuster spezifische Redewendungen, Formulierungen oder strukturelle Eigenschaften von Erzählungen sind, die sich innerhalb einer Gattung, in diesem Fall Märchen, wiederfinden lassen. In diesem Sinne unterliegen diese den gesellschaftlichen Einflüssen, Werten und Gegebenheiten der jeweiligen Entstehungszeit.

Ein didaktischer Vorschlag wäre, die Erzählmuster von klassischen Märchenerzählungen mit modernen Adaptionen mit SchülerInnen zu vergleichen und die Unterschiede herauszustellen. Sinnvoll wäre hierbei eine Adaption zu wählen, die sich auf ein klassisches Märchen bezieht, um den intermedialen Bezug herzustellen. 

Unterrichtsansatz I

Die SuS bekommen das Bilderbuch „Rotkäppchen“ von Francesca Consanti (2020) von ihrer Lehrkraft vorgelesen. Das könnte im Klassenverband, in Form eines Sitzkreises, geschehen. Im Anschluss jeder Leseeinheit (10 Seiten, pro Leseeinheit) gibt es die Möglichkeit, sich über die ersten Eindrücke zu dem Bilderbuch auszutauschen. Sobald die Geschichte zu Ende gelesen wurde, dürfen die Kinder selbst kreativ werden. Sie sollen die Geschichte von Rotkäppchen umschreiben. Die Lehrkraft kann hier mögliche Ideen für Veränderungen vorgeben. Die Kinder gehen anschließend in eine Einzelarbeitsphase. Um einen gewissen Freiraum zu ermöglichen, könnten die Kinder sich einen Platz zum Schreiben suchen. Dieser kann beispielsweise in einer Leseecke oder auf dem Flur sein. Somit können sie sich zurückziehen und ihren Gedanken freien Lauf lassen.


Sie bekommen die Aufgabe, die Geschichte von Rotkäppchen aus ihrer eigenen Perspektive zu verfassen und die Geschichte so zu verfassen, wie es ihnen in den Sinn kommt. Dazu müssen sie ihren Text vorerst planen und strukturieren (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, 2016). Um die Aufgabe zu differenzieren, gibt die LK Hilfestellungen. Sie gibt mögliche Narrationsmuster vor: 

Am Ende werden die Märchen vorgelesen und mit dem Rotkäppchen von Francesca Consanti (2020) verglichen: Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es? Wie verändert sich das Erzählmuster?

Bei dieser Methode werden die Kinder zu Märchen-Schreibern. Wichtig hierbei ist, dass es kein "Falsch" und "Richtig" bei dieser Aufgabe gibt. Es wird lediglich das Ergebnis der SuS am Ende der Einheit mit dem herkömmlichen Märchen verglichen. Sie bringen hierbei ihre eigenen Erfahrungen zu dem Märchen ein. Wie bereits im theoretischen Teil erwähnt, werden in narrativen Texten Emotionen vermittelt, zudem können sie auch kulturspezifisch sein (Lommatzsch, 2009). Durch die heterogenen Klassen ist ein vielfältiges Ergebnis zu erwarten. Die SuS können die Möglichkeit bekommen, auf eigenen Wunsch ihre Texte der Klasse vorzustellen, ohne sie bewerten zu lassen.


Der Ansatz lässt sich in den Bereich der "Intertextualität" einordnen (Wicke, 2016). Die Geschichte Rotkäppchen wird von den SuS umgeschrieben und somit entsteht ein neues Muster im Märchen.

Der Unterrichtsansatz ist geeignet für Kinder Ende der 3. Klasse bis Anfang der 4. Klasse. 

Unterrichtsansatz II

Um Narrationsmuster in Märchen genauer zu thematisieren, eignet sich die Methode des Rollenspiels. Bei der Erstellung eines Rollenspiels müssen sich die SuS genau mit dem Text auseinandersetzen und diesen auch verstehen. Auch die Narrationsmuster des Märchens werden so betrachtet und die Motivation der SuS wird durch die kreative Arbeit verstärkt (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, 2016).

Die Unterrichtseinheit eignet sich für die 3.-4. Klasse. Zudem sollte zuvor im Unterricht das Märchen Rotkäppchen von den Brüdern Grimm (1812) thematisiert und gemeinsam mit der Klasse gelesen worden sein, sodass jedes Kind den Inhalt des Märchens kennt und die Aussage des Märchens auch versteht. Insgesamt ist dieser Unterrichtsentwurf für mehrere Stunden gedacht.

Genaues Vorgehen:

Zunächst werden die klassischen Narrationsmuster eines Märchen am Beispiel von Rotkäppchen in der Klasse erarbeitet. Dann folgt die Betrachtung einer Adaption des Märchens. Als Beispiel hierfür wäre das YouTube Video „Märchen in Asozial feat. Kelly“ von Julien Bam (2019, 0:00-1:51). Natürlich kann auch eine andere Adaption gewählt werden, die passend für die Klasse ist. Anhand des Videos werden nun die Narrationsmuster zwischen dem klassischen Märchen Rotkäppchen der Brüder Grimm und die neuere Version von Julian Bang verglichen. Die SchülerInnen sollen erarbeiten, welche unterschiedliche der Muster vorzufinden sind.

Anhand der Videoadaption sollen die SchülerInnen eine eigene Adaption in Form eines Rollenspiels mit veränderten Narrationsmustern erstellen. Die Lehrkraft erklärt dafür zunächst kurz, was genau ein Rollenspiel ist und welche Besonderheiten hier vorzufinden sind. Dann werden Gruppen gebildet, die jeweils das Märchen in Form eines Rollenspiels darstellen sollen. Hier ist es von Vorteil, wenn die LK die Gruppen einteilt, um eventuell auf die verschiedenen Lernvoraussetzungen der SuS eingehen zu können und somit ausgewogene Gruppen entstehen können.

Bei der Gestaltung des Rollenspiels dürfen die Kinder kreativ sein und das Märchen mit den klassischen Narrationsmustern abwandeln oder in einen anderen kulturellen Kontext einbinden. Wenn eine Gruppe Schwierigkeiten bei der kreativen Gestaltung hat, kann die LK hier etwas unterstützen, indem sie verschiedene Vorschläge miteinbringt, wie beispielsweise, dass das Märchen ein offenes Ende hat und der Jäger nicht in Erscheinung tritt, oder der Wolf lieb ist.

Nach etwa zwei Schulstunden (je nach Lerngruppe variierend) sollten die Rollenspiele erstellt sein und die Gruppen tragen sich die Versionen vor. Nach jeder Vorstellung wird eine Reflexion durchgeführt.

Die Kinder der Gruppe bekommen die Aufgabe:

Die Kinder, die zugeschaut haben, bekommen die Aufgabe:

Die Aufgaben/ Reflexionen sollen anschließend besprochen werden. Hierbei ist es wichtig darauf einzugehen, was diese Veränderung des Märchens bewirkt hat und ob hier eine Veränderung des Narrationsmusters vorliegt. Dadurch wird das Bewusstsein und die Funktion von Narrationsmuster verstärkt.

Weitere passende Gegenstände: Verschiedene Interpretationen des Märchens Rotkäppchen


Dieser Gegenstand eignet sich, da die Charaktereigenschaften von Rotkäppchen sich in dieser Erzählung verändert haben. Die Handlung der Ursprungsgeschichte verändert sich, da Rotkäppchen diesmal merkt, was der Wolf vorhat und kreativ reagiert. Hier wäre es spannend, diese Erzählung mit dem Ursprungsmärchen im Unterricht zu vergleichen.

 

Der Wolf im Nachthemd könnte ebenso im Unterricht Anwendung finden. Das Handlungsmuster und die Reihenfolge der Erzählung weichen von dem Ursprungstext ab. Dies könnte gemeinsam mit Schüler*innen analysiert werden. Der Wolf zieht ein Nachthemd der Großmutter an und geht verkleidet in den Wald. Dort wird er weder vom Jäger noch von anderen Tieren als Bedrohung wahrgenommen. Als er auf Rotkäppchen trifft, hilft sie ihm aus dem Nachthemd zu schlüpfen, da sie denkt, es sei ihre Großmutter. 


Dieses Werk ist ebenso interessant für den Unterricht, da dieses das Märchen in die heutige Welt überträgt. Die Grundgeschichte bleibt gleich, aber die Umstände haben sich verändert. Die Großmutter ist beispielsweise nicht krank. Rotkäppchens Charakter hat sich ebenfalls zu einem frechen Mädchen verändert. Der Wolf dieser Geschichte hat auch veränderte Absichten und ist scheu. Dadurch ergibt sich ein ganz anderer Ausgang der Erzählung, obwohl das Grundgerüst gleich bleibt. Zudem gibt es eine neue Figur, die die Rolle des Bösewichtes übernimmt. Diese ist der Bürgermeister.

 Quellen: