Das Mädchen in Rot

von Aaron Frisch (Text) und Roberto Innocenti (Illustration)

Worum geht es?

Schlägt man das Buch auf, so hat man eine Seite mit einem Bild einer großmütterlich gehalten strickenden Frau, Kinder um sich herum geschart, die beginnt, eine Erzählung über ein Mädchen in roter Kleidung zu erzählen. Die Geschichte ist dabei als Binnenerzählung in eine Rahmenhandlung eingebunden. 

Sophia, das Mädchen im roten Mantel, bekommt von ihrer Mutter den Auftrag, ihrer Großmutter Essen zu bringen. Die Worte der Mutter, die ihr eintrichtert, auf dem rechten Weg zu bleiben, hat sie vernommen. Sophia eilt alsdann durch die Großstadt, lässt sich jedoch für einen Moment ablenken und nimmt den falschen Ausgang, wodurch sie in einer ihr unbekannten Straße, die sich am Ende auch noch als Sackgasse entpuppt, landet. 

In dieser Straße stößt sie auf eine Motorradgang, die ihr Angst einflößt. Von einem Fremden in schwarzer Kleidung glaubt sie zunächst gerettet zu werden und besteigt sein Motorrad in Richtung Großmutter. Er nimmt sie aber nur für die Hälfte des Weges mit und schlägt dann eine andere Route ein. 

Angekommen beim Wohnwagen der Großmutter erwartet nicht diese Sophia an der Tür, vielmehr ist der schwarz-gekleidete Fremde bei der Großmutter. Jede polizeiliche Hilfe kommt zu spät. Beide werden Opfer einer Gewalttat.

Mit einer Unterbrechung der Rahmenhandlung gibt es noch ein alternatives Ende, wo Großmutter und Enkelin gerettet werden.  

Wie sind Bilder gestaltet? 


Als ein im klassischen Stil gehaltenes Bilderbuch kann man sich „Das Mädchen in Rot“ nicht vorstellen. Vielmehr hat es der Leser bzw. der Betrachter dieses Buches es mit vier verschiedenen Arten von Panels zu tun. Zu finden sind in diesem Werk zunächst Splash Pages, die eine Doppelseite füllen. Aber es gibt auch Bilder, die sich auf nur eine Hälfte der Doppelseite beschränken (Dittmar, S. 68, 125).


Wenn man das Werk nicht als ein klassisches Bilderbuch identifizieren kann, so kann man es aber auch nicht einem Comic à la Micky Mouse zuordnen, denn da sähe man mehrere Reihen von hintereinander folgenden Bildern, die ebenfalls durchaus eine ganze Seite einnehmen können. Es sind in diesem Werk ohne Ausnahme nämlich Blocktexte, die der Illustrator den Bildern unterhalb oder auch seitlich der Panels hinzufügt. 

Interessant ist, dass, schlägt man das Buch auf und blättert das Schmutzblatt um, wider der Durchschnittserwartung der Blick nicht auf ein Titelbild trifft - dieses folgt erst im Anschluss -, sondern vielmehr auf ein Meta-Panel. Das Meta-Panel nimmt fast die gesamte Seite in Anspruch und wird noch durch zwei Blocktexte unterstützt.


Das erste Panel ermöglicht dem Betrachter ein erstes Eintauchen in die Erzählsituation. Die Darstellung der Kinder, andächtig einer kleinen Frau, einer Großmutter ähnlichen Figur angelehnt, lauschend, erfolgt auf diesem Panel. Beigefügt sind zwei Blocktexte, welche die Erzählinstanz verdeutlichen. Die erzählende Großmutter ist selbst nicht am Geschehen beteiligt, sie ist die allwissende narrative Instanz. Zu einer Eröffnung der Binnenhandlung kommt es an dieser Stelle jedoch noch nicht.


Im Gegenzug zu allen anderen Panels hat der Illustrator die Obersicht als Perspektive gewählt. Es wird hier so der Eindruck von einem Gesamtüberblick der Situation vermittelt. Neben den Personen gibt es sehr detailreiche Dinge, die den dargestellten Raum ausfüllen. Es erweckt fast den Eindruck eines Wimmelbilderbuches.

Vor allem die Grau- und Brauntöne sind es, die Verwendung gefunden haben und so die ersten Eindrücke vermitteln. Lediglich die Gegenstände, die zuhörenden Kinder und die erzählende Großmutterfigur erhalten mehr Farbe.


Die zwei hinzugefügten Blocktexte ermöglichen es dem Leser die Großmutter–Figur, die selbst nicht aktiv in der Geschichte agiert, jedoch als allwissende narrative Erzählinstanz der Geschichte zu identifizieren ist. 

Bei diesem Panel ist es dem Betrachter möglich, einen Blick von oben auf das Geschehen zu erhaschen. Man sieht neben den Personen auch eine Menge von sehr detailliert gezeigten und gleichzeitig farbigen Gegenständen, die bei dem Bild an eine Art Wimmelsuchbild denken lassen. Neben den bunten Gegenständen sind es die Personen, die farbenfroh erscheinen und sich dadurch von dem sonst in braun und grau gehaltenen Raum abgrenzen.


Mit dem Umblättern auf die nächste Seite stößt man wider Erwarten auf ein Meta–Panels, genauer das Coverbild. Wegen der Angaben über Autor und Illustrator, eines Schriftzug in Weiß , der noch zur Rahmenhandlung gehört, wie auch unten der Verlag auf orangenem Hintergrund verstärkt so den Eindruck eines Titelblattes.


Mit einem Meta–Panel beginnt das Erzählte, das ein Haus mit mehreren Wohneinheiten präsentiert. Die Betrachter blicken auf viele Balkone, die das Leben in diesem Haus darstellen. Dazu gehören ebenfalls Textblöcke, die ergänzend zu den Bildern zu den dargestellten, parallel stattfindenden Ereignissen. Erst im letzten Textblock bekommt der Leser Informationen über Sophia, dem Mädchen in Rot. Zu sehen ist sie aber sie sogar noch später, nämlich auf der nächsten Seite, wenn man von der Außenperspektive in die Innenperspektive wechselt. Dort wird man in die Wohnung des Mädchens und ihrer Familie geführt. Wer genau in dieser Wohnung lebt, erfährt man, wenn man den Text unter dem Panel liest. Man erfährt auch von der Großmutter, die zwar nicht dargestellt, jedoch im Text erwähnt wird. Diese wohnt nicht in der Wohnung, und man muss für einen Besuch an das andere Ende der Stadt fahren. Das direkte Umfeld in der Familie wird noch farbenfroh dargestellt, verändert sich aber, bedingt auch durch einen Szenenwechsel, in dem Moment, als das Mädchen die Wohnung in Richtung Großmutter verlässt.


Das Stiegenhaus, wie auch der Flur werden in tristen Farben gehalten. Der Szenenwechsel vom Flur in die belebte Straße erfolgt für den Leser nun durch das Weiterblättern. Die Welt von Sophia, wird durch ein Splash–Panel dargestellt, und vermittelt dem Leser die lebensfeindliche Anonymität in einer Großstadt, was auch schriftlich insofern unterstrichen wird, indem es heißt, dass man „von allen gesehen, aber von keinem beachtet“ wird. (Innocenti; Frisch, B. o. S.) Dieses Splash–Bild schreit förmlich das Schnelllebige einer Großstadt heraus, indem man eine Fülle an Plakaten, Werbung, Schildern, usw. verarbeiten muss.

Auch hier denkt man an ein Wimmelsuchbild, findet aber schnell die Protagonistin Sophia, denn sie vermag durch ihren roten Mantel besonders hervorzustechen.

 

Sophia geht auf ein hohes Gebäude zu, das offensichtlich als Vergleich zum Wald entworfen wurde. Auch dieses Bild zeigt einen sehr lebhaften Betrieb in der Stadt. Durch den Erzähler (Blocktext) erfährt man, dass es sich um „das Herz des Waldes“ handelt.

Wie bei der Wohnung erhält man nach dem Weiterblättern eine Innenansicht des Gebäudes, ein Einkaufszentrum, in dem eine breite Palette an Farben vorherrschend ist. Unheimlich viele Personen und Schriftzüge in allen möglichen Sprachen gehalten säumen diese zwei Seiten. Auch hier kann man Sophia, klein und inmitten des Gewusels, doch finden, wie sie sich zunächst nicht ablenken lässt und stur ihren Weg weiterzugehen scheint. Durch das grelle und vielseitige Bild verbleibt man eine längere Zeit auf diesem Bild, versucht die Details ein wenig aufzunehmen, was somit das Lesetempo ein wenig bremst. Diese buntgehaltenen Bilder, auch auf der nächsten Seite, erwecken bei dem Leser den Eindruck von Frohsinn, Ausgelassenheit und fröhlichem Beisammensein. Tatsächlich kommt es aber erneut zu einem Szenenwechsel und damit auch zu einem Wechsel der Farbzusammensetzung.


Sophia nimmt wohl einen ihr unbekannten Ausgang und landet in einem verarmten Straßenzug, der ihr gänzlich unbekannt ist. Alle folgenden Seiten zeichnen sich durch Düsternis, Gefahr, Bitternis und Dunkelheit aus. Das Auftauchen einer Straßengang und auch eines mysteriösen dunkelgekleideten fremden Mannes unterstreichen diesen Eindruck für den Leser. Eile und Angst erkennt man an der Körperhaltung der Protagonistin. Der einsetzende Regen tut sein Übriges. Auf den Seiten, auf denen der Jäger und Sophia abgebildet sind, ist es der rot – schwarze Kontrast, der ins Auge sticht. Der Blocktext gibt Informationen darüber, welche Rolle (Beschützer) sie dem Jäger zuschreibt, und wie freiwillig sie von ihrer Großmutter erzählt. Mit dem Jäger auf dem Motorrad hat man den besagten Kontras schwarz – rot, aber dunkle und trübe Farben geben eine bedrückende Atmosphäre wieder, die eines von Armut gekennzeichneten Stadtviertels. Nachdem Sophia wieder alleine ihren Weg zur Großmutter bestreiten muss, kann man die Eile schnell bei ihr zu sein an der Körperhaltung gut erkennen. Eine Bestätigung darüber findet man auch im Text unter dem Bild. Ihr Weg führt wieder durch einen Teil des trostlosen Armenviertels. 


Der Jäger hat sich zwar offensichtlich auf dem Bild zuvor von Sophia verabschiedet, erscheint aber auch auf dem Bild danach, nur dass er eine Art Schleichweg in die gleiche Richtung zu nehmen scheint.


Die nächsten zwei Panels haben keinerlei ergänzenden Text. Die Bilder lassen viel Interpretationsspielraum erkennen bzw. erscheinen selbsterklärend. Sophia noch auf dem Weg, vorbei an einem Autoschrottplatz, während auf der weiteren Abbildung ein Wohnwagen zu erkennen ist, in den sich eine dunkle Gestalt Zutritt verschafft. Das neben dem Wohnwagen abgestellte Motorrad lässt sofort erkennen, um wen es sich bei dem Eindringling handelt. 


Schlussendlich kommt Sophia bei ihrer Großmutter an. Auf dem Bild ist zu erkennen, dass auch die Sonne versucht sich hinter den dunklen Wolken hervor zu kämpfen. Anlehnung findet man in den literarischen Werken der Romantik, die die Stimmung der Personen oder einer Situation sich auch gleichzeitig in den Wetterphänomenen widerspiegelt. Bis zu diesem Zeitpunkt hofft der Betrachter, dass alles gut ausgehen möge. Der Blocktext gibt ergänzend die Information an den Leser, dass die Großmutter in dem Wohnwagen lebt und normalerweise immer ihre Enkelin an der Tür erwartet.


Ein großer Sprung auf dem nächsten Panel erfolgt nun, indem man wieder die Großstadt vor Augen geführt bekommt, abermals das Wohnhaus von Sophia, dass in dunklen Grautönen gehalten wird. Es ist schon tiefe Nacht und nur ein Lichtpunkt ist auf dem Bild auszumachen, nämlich vermutlich die Wohnung von Sophias Mutter. Das großflächige Format des Panels betont ein bedrückendes Gefühl der Mutter - erzeugt dieses negative Gefühl aber gleichzeitig auch bei dem Betrachter der Abbildung. 


Und wieder ein Szenenwechsel zurück, zurück zum Wohnwagen der Großmutter. Vom Wohnwagen wegfahrend erkennt man ihn - den Jäger in seiner schwarzen Kleidung mit einem Wolfsgesicht. Kurz darauf der gleiche Wohnwagen, umstellt von Polizisten. Wenn man nun die Worte des darunter stehenden Textes liest "zu spät" lässt einen der Gedanke, dass die Polizei zu spät ist, um gegen den Wolf-Jäger noch etwas ausrichten zu können, nicht mehr los. Parallel zu diesem Geschehen ein weiteres Bild: Man sieht wieder den  Jäger auf der Mauer, umringt von anderen Motorradfahren, alle mit ihrem Dasein und ihren Taten wohl im Einklang. Abermals zur gleichen Zeit steht die Mutter auf dem Balkon und wartet. Durch die Erzählinstanz erfährt der Leser, dass das Telefon läutet und "Kein Sonnenstrahl wird an diesem Tag durch die Wolken brechen" (Innocenti; Frisch, B.o.S.). Für ein Happy End ist da kein Platz mehr zu vermuten. 


Mit dem vorletzten Panel wird nun die Erzählebene gewechselt und der Leser befindet sich wieder bei der puppenhaften Großmutter, umringt von weinenden Kindern. Die Erzählinstanz, im Textblock zu lesen, fragt aber, ob es nicht auch eine andere Wendung haben kann, was im letzten Penel des Buches zu sehen ist. 


Die Geschichte von Sophia in ihrem schönen roten Mantel wendet sich dem ersten Anschein nach an ein junges Publikum, da es eine Identifikationsmöglichkeit mit der Figur Sophia gibt. Auch die Zielgruppe, die in der Rahmenhandlung präsentiert wird, deuten auf die entsprechenden Adressaten hin. Es ist aber auch davon auszugehen, dass ältere Personen - Jugendliche und aufwärts - sich angesprochen fühlen, indem man sich auch Gedanken über die Vor- und Nachteile des Großstadtlebens (mit Kindern) macht.  


Wie wird die Geschichte verändert?

Sich mit einem Vergleich zwischen "Das Mädchen in Rot" und dem grimmschen Rotkäppchen-Märchen zu beschäftigen erübrigt sich insofern, als es sich bei dem Mädchen in Rot um eine Umformung handelt. Auch wenn die Transformation eindeutig auf das "Rotkäppchen" basiert, kann man nicht sagen, dass es keine eigenständige Erzählung ist. 

Wie in der grimmschen Variante gibt es auch in der Geschichte um Sophia einen hetrodiegetischen Erzähler, wobei man aber von der Großmutter als Erzählinstanz von einer Erzählinstanz zweiter Stufe auszugehen ist, da diese in der Rahmenhandlung selbst auftritt. 

Die Geschichte von Sophia und ihrer Familie wird in eine Metropole verlegt, die durchaus stellvertretend für den Lebensschauplatz Großstadt in der heutigen Zeit fungieren kann. Ganz unbekannt wird dem Leser dieser Raum nicht sein, wenn man auch nicht konkret sagen kann, wo sich dieser Ort in der Realität befindet. 

Dass diese Transformation sich mit seinen Panels, ergänzt durch Blocksätze, gestaltet wird, lässt an einen Comic denken.  Zwischen dem Wechsel von einem Bild zum nächsten, entstehen Zwischenräume, die ein guter Anlass für den Leser sind, seine Phantasie ins Spiel zu bringen. Bilder mit vielen Szenen, versehen Darstellung und Geschichte mit einer erhöhten Dynamik, unterstrichen mit Texten, welche die Anonymität in der Großstadt betonen. Besonders großförmige Panels mit einem Blick über die ganze Stadtszenerie unterstreichen die Atmosphäre in Einklang mit dem dazugehörigen Text. Manche Begrifflichkeiten, die sich teilweise an das grimmsche Märchen halten, wirken durch die Illustrationen metaphorisch. 

Intertextuelle Verweise in der Textebene sind insoweit ersichtlich, als schon am Anfang, als Sophia die Wohnung bzw. das Haus in Richtung Großmutter verlässt, sie noch den Satz ihrer Mutter - "Gehe nicht vom Wege ab!" - im Nachklang hat, (Innocenti; Frisch B. o. S.) eine Analogie zum grimmschen Text, in dem es heißt: "So geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Weg ab." (Grimm; Grimm, S. 151).

Anders als beim Original, wo Rotkäppchen nur rein äußerlich beschrieben wird, erkennt man sehr deutlich, wie sich die jeweiligen Personen fühlen. Ihre Gefühlswelt wird in den Bildern durch die Farbakzente wiedergegeben und auch durch den Text findet man reichhaltigere Hinweise auf das Lebensgefühl dieser modernen, außer Rand und Band geratenen Welt, welche die Farben - Ausdruck eines harmonischen Lebens - verloren hat und ausgewaschen, grau und braun daherkommt. Dieser Welt trotzen einige wenige wie Sophie, doch sie drohen letztendlich vom Dunkel der gnadenlosen Moderne verschlungen zu werden. Freilich muss dies nicht geschehen. Das alternative Ende der Bilderzählung verweist darauf, dass es die Dunkelheit ist, die sich das Licht - und die Farben - gebiert und Hoffnung selbst im dunkelsten aller Momente erhalten bleibt. 

Mit der Transformation sind auch einige Figuren hinzugekommen. So ist mit der Einführung des Holzfällers im zweiten Ende, dem Happy End, der Verweis auf das Ländliche hinzugekommen, ein Moment, das aus dem Original kommt. Die Motorradgang und auch die Polizeibeamten stellen einen weiteren Bezug zu unserer Gegenwart dar. Bildlich wird eine hybride wolfsähnliche Figur erschaffen, die den Motorradfahrer mit wölfischen Zügen darstellt. Der verdorbene Charakter dieser Figur wird deutlich gezeigt. Die Polizeibeamten und auch der Holzfäller werden zwar bildlich dargestellt, auf der Textebene findet man aber keinen Verweis auf sie. 


Wie erkennt man die Verbindung zum Prätext?

An sehr vielen Stellen ist erkennbar, dass es zu dem Bilderbuch auch einen Basistext gibt. Dies zu erkennen setzt selbstredend die Kenntnis des Rotkäppchens von den Gebrüdern Grimm wie auch jene Variante von Charles Perrault voraus.

Der "Jäger" wird mit einem lächelnden Mann verglichen, der große Zähne hat (Grimm; Grimm, S. 151 - 154). Hier erkennt man den intertextuellen Vergleich auf das Grimmsche Märchen und die Fragen des Rotkäppchens, welches dieses seiner Großmutter stellt: "Aber Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul!" (Grimm; Grimm, S. 153). Auch auf die Ohren des Wolfes werden Anspielungen gemacht, indem es bei Frisch heißt: "Was für scharfe Ohren Wölfe haben können!" (Innocenti; Frisch, B. o. S.), was nicht unähnlich der grimmschen Variante ist, wo es heißt "Ei Großmutter, was hast du für große Ohren!" (Grimm; Grimm, S. 153).

Neben den oben angeführten Sätzen sind es aber auch einzelne Wörter, die eine Verbindung herstellen. Obschon es eine Stadt ist, in der sich Sophia befindet, wird auch hier von einem Wald gesprochen. Ebenso stellt der Begriff Jäger, der für den schwarz gekleideten Motorradfahrer gewählt wird, eine Analogie her.

Genauso wie die textliche, lässt auch die bildliche Ebene viel Spielraum für das Erkennen intertextueller Verweise zu; tatsächlich wäre ohne die grimmsche Märchenvariante ein Entstehen des Mädchens in Rot undenkbar.

Auf rein bildlicher Ebene lässt sich der Wolf daran erkennen, dass der Motorradfahrer mit wölfischen Zügen dargestellt wird. 

Cover des Buches

Innocenti, Roberto; Frisch, Aaron (2013): Das Mädchen in Rot

Die Bilderbuchanalyse zeigt auf, dass es sich bei der Version von Aaron Frisch und Roberto Innocenti um ein Werk handelt, das die Gefahren der Gegenwart mit realitätsnahen Ereignissen wiedergibt. Eine Intertextualität zum Grimmmärchen, die gerade in der schriftlichen Ebene Einzug hält, ist nicht zu verkennen. Eine klare Verbundenheit mit dem Märchen findet man, wenn man die von Sophia erzählende Großmutter als Erzählerin zweiter Stufe wahrnimmt, auch die Einleitung zum Alternativen Ende wird so eingeleitet, dass stark an eine Schlussformel der grimmschen Märchen erinnern lässt.

Das erste mögliche Ende der Geschichte verweist auf das Märchen "Le petit chaperon rouge", die als Moral vermitteln will, dass gerade die sanftesten Wölfe die gefährlichsten sind (Perrault, S 70 - 73).  Im Bilderbuch sieht man nicht nur die finstere Motorradgang, die Angst und Schrecken verbreitet, sondern auch den zunächst harmlosen Jäger, der eher als Retter wahrgenommen wird. An dieser Stelle ist somit davon auszugehen, dass sowohl dem Autor als auch dem Illustrator die aus Frankreich stammende Geschichte bekannt sein müsste. 

Deutliche Parallelen findet man auch im Handlungsverlauf. Auch in dem Werk von Innocenti und Frisch geht es um ein Mädchen, das seine Mutter fortschickt, um die Großmutter zu besuchen. Der rote Mantel, ein Geschenk dieser ist eine Anlehnung an das rote Käppchen bei Grimm (Grimm; Grimm, S. 151 - 154). Auch eine Anweisung der Mutter an die Tochter, sie solle nicht vom Weg abkommen, ist erhalten geblieben. Der Begriff "Wald" ist eine Metapher für eine turbulente, düstere Großstadt. Das Blumenmeer in der grimmschen Variante, das Einkaufzentrum mit dem Namen "The Wood" mit seinen vielen Attraktionen ist es, was das Mädchen in Rot versucht abzulenken. 

Das Wissen über die grimmsche Variante führt automatisch dazu, dass man die Gefahr erkennt, die von dem fremden Mann ausgeht, der am Anfang so vertrauenswürdig und stark erscheint und so zu den Informationen kommt, die ihm von Vorteil sind. Dass er nur einen Teil des Weges mit ihr zusammen bestreitet, ist der Plan, den auch der Wolf im grimmschen Märchen hat, nämlich vor der Enkeltochter bei der Großmutter zu sein. Das Nicht-Warten auf die Enkeltochter und die Tatsache, dass der "Jäger" bereits bei der Großmutter ist, lassen sich als Indizien sehen, dass es weitere Parallelen zum "Rotkäppchen" gibt. Was der Wolf mit Sophia und der Großmutter am Ende genau macht, erfährt man als Leser im Gegensatz zu "Rotkäppchen" weder textlich noch schriftlich. Man kann es sich lediglich vorstellen, mit Blick auf das Grimmmärchen. Das Ende von "Das Mädchen in Rot" wird somit abweichend von dem initiiert, was im Grimmmärchen steht. Das schlechte Ende zeigt hier nun eher eine Anlehnung an die Fassung von Charles Perraults, die ebenfalls kein Happy End kennt  (Perrault, S 70 - 73). Indem von der Erzählinstanz Großmutter eine weitere Version des Endes gezeichnet wird, befindet man sich wieder gedanklich im grimmschen Märchen (Grimm; Grimm, S. 151 - 154).

Die bewusste Entscheidung der beiden Künstler, die dazu führte, dass die Geschichte in eine gegenwärtige Geschichte transformiert wurde, bedeutete schlussendlich wesentliche Elemente erzählerisch so zu transponieren, dass das Märchen auch für unsere Zeit sinnstiftend und zielführend bleibt. Hierzu gehörte auch deren Visualisierung in Bildern, zeigt sich die Moderne doch fasziniert von der Macht der Bilder, welche die Verfilmung sämtlicher wortgewaltiger Epen - Herr der Ringe, Asimov, Rad der Zeit u.a. anstrebt - auch wenn es hierbei oftmals eher um eine Form von visueller Befriedigung, denn um die Schaffung eines Leitbildes handelt. Dies aber lässt den Wert des Märchens um so heller erstrahlen. 

Quellen