Wer hat Angst vor Großmutter Wolf?

Ken Brown

Worum geht es?

Das Bilderbuch "Wer hat Angst vor Großmutter Wolf?" geschrieben von Ken Brown handelt von einer alten (aber auch bösen?) Wölfin, die alleine tief im Wald lebt und von allen Tieren gefürchtet wird. Andere Tiere aus dem Wald sind neugierig und möchten die alte Wölfin sehen und rufen ihr immer wieder zu "Sag, wie spät ist es, Großmutter Wolf?". Die Tiere trauen sich immer näher an das Haus der alten Wölfin heran und verlieren ihre Scheu. Entgegen der Erwartung, dass die kleinen Tiere in eine Falle tappen und der alten Wölfin zum Opfer fallen, zeigt sich diese am Ende als gutmütige Wolfsgroßmutter.

Wie sind Bilder gestaltet?

Die Bilder besitzen eine sehr starke Aussagekraft, da diese realistisch und detailreich gestaltet sind. Die Bilder sind auf beiden Seiten des Buches zu finden und durch kurze Sätze ergänzt. Durch die kurzen Textpassagen eignet sich dieses Bilderbuch einerseits selbstverständlich gut zum Vorlesen. Andererseits können Kinder versuchen, das Buch selbstständig zu lesen, da die Textpassagen kurz sind und sich die Wörter wiederholen. Zudem wird erst durch die Bilddarstellung das Wesen und der Charakter der Tiere verdeutlicht. 

Spannend ist zudem, dass die Wolfsgroßmutter sehr bedrohlich und groß aussieht, während die übrigen Tiere harmlos und klein erscheinen. Die Hintergründe und Nebengeschehnisse sind bildlich weit ausgestaltet. Somit wird auch ohne Textbeschreibungen deutlich, wo sich die Handlungen abspielen (beispielsweise im Haus oder im Wald). Die Bilder sagen hierdurch deutlich mehr aus als der Text und sind für das Verständnis der Geschichte von ausschlaggebender Bedeutung. Die Textpassagen enthalten lediglich die wörtlichen Zitate und formulieren grob, welche Handlungen die Tiere unternehmen. 

Die Bilder illustrieren die Geschichte auf wirksame Weise. Alle Handlungen der Tiere werden mittels der Bilder dargestellt. Beispielsweise wird das Anschleichen der Tiere an das Haus der Wolfsgroßmutter auf jeder Seite aufgegriffen und verdeutlichen den mit dem Geschichtsverlauf zunehmenden Mut der anderen Tiere. Der Höhepunkt der Geschichte wird erreicht, als die Tierkinder in der Waldhütte der alten Großmutter angekommen sind. Die vermittelte Wiederholung, die durch die wiederkehrende Phrase der Tiere ermittelt wird und der Szene des Höhepunktes voransteht, wird abrupt unterbrochen, als die Wolfsgroßmutter androht, die Kinder zu essen. Der Schreck wird einerseits durch die großgeschriebenen Buchstaben verdeutlicht, aber auch durch die angsteinflößende Gestalt der Wolfsgroßmutter. 

Zum Schluss löst sich der Spannungsmoment jedoch zum Guten auf, als die Tierkinder gemeinsam mit der Wolfsgroßmutter essen und sie ihnen eine Geschichte vorliest. Die Stimmung der Bilder erzeugt Spannung, da die Wolfsgroßmutter sehr bedrohlich wirkt und dies gegen Ende der Geschichte durch dunklere Farbtöne aufgegriffen wird. Durch die realistische Bilddarstellung können sich Kinder sehr gut in die Geschichte einfinden und viele Details entdecken. Beispielsweise kann die Stimmung und die Gefühle der Tiere durch das Betrachten der Bilder interpretiert werden. Das Bilderbuch bietet einen sinnvollen Gesprächsanlass und kann die Interpretationen und Überlegungen der Kinder miteinbeziehen. 

Wie wird die Geschichte verändert?

Das Bilderbuch "Wer hat Angst vor Großmutter Wolf" ist an das Märchen Rotkäppchen angelehnt. Dennoch lassen sich entscheidende Abweichungen sowohl auf der Text- als auch auf der Bildebene finden. Festzuhalten ist, dass es sich bei dem vorliegenden Buch nicht um ein Märchen im herkömmlichen Sinn handelt.

Im Gegensatz zu Grimms Rotkäppchen Märchen ist das Bilderbuch sprachlich nicht auf der gleichen Ebene wie das Märchen. Da das Bilderbuch vorrangig jüngere Kinder ansprechen soll, bietet sich das Bilderbuch eher zum gemeinsamen Lesen und nicht ausschließlich zum Vorlesen an. Die Geschehnisse werden nicht, wie im Märchen, durch den Text transportiert, sondern vielmehr durch die Illustrationen. Verändert ist in dem Bilderbuch, dass Rotkäppchen innerhalb der Geschichte nicht als eigener Charakter auftritt. Anstatt, dass wie im herkömmlichen Märchen Rotkäppchen auf dem Weg zur Großmutter ist, sind in dem Bilderbuch die Tiere auf dem Weg zur Wolfsgroßmutter, die allerdings auch keine verwandte Großmutter ist, sondern vielmehr eine gefürchtete Wölfin, welche große Angst bei den anderen Tieren erzeugt. Das Wagnis, der anderen Tiere sich näher an die Wolfsgroßmutter heranzuschleichen, wird vorrangig durch die Illustrationen transportiert und nicht wie im Rotkäppchen Märchen durch die Geschichte beschrieben. 

Abweichend ist ebenso, dass die Tiere in einer Vielzahl auftauchen und die Rolle von Rotkäppchen nicht durch ausschließlich ein Tier dargestellt wird. Die Tiere sind hierbei allein durch ihre Neugier getrieben und nicht weil sie ihrer Großmutter Kuchen und Wein bringen möchten, wie es in Grimms Märchen beschrieben ist. Zudem verkörpert die Wolfsgestalt, sowohl die Großmutter als auch den Wolf und ist nicht durch zwei verschiedene ProtagonistInnen dargestellt. 

Spannend ist in diesem Zusammenhang auch, dass Rotkäppchen in dem Originaltext keine besondere Angst vor dem Wolf hat und dessen böse Absicht nicht durchschaut, wohingegen die Tiere große Angst vor der Wolfsgroßmutter verspüren. Weiterhin ist zu bemerken, dass die Tierkinder der Wolfsgroßmutter nicht zum Fraß werden und sie somit auch nicht durch einen Jäger gerettet werden müssen. Das Bilderbuch löst sich im Gegensatz zu dem Märchen, entgegen der Erwartungen zum Positiven auf, ohne, dass ein Jäger eingreifen muss.

Diese Abweichungen können eine tiefere Botschaft vermitteln. Während das Märchen von Rotkäppchen im Original eher durch positive Umstände zu einem guten Ende führt, vermittelt das Bilderbuch die Botschaft, dass die Überwindung der eigenen Angst und Bedenken zu einem positiven Erlebnis führen kann. Durch diesen Umstand bekommt die Auseinandersetzung mit dem Bilderbuch einen lebensweltlichen Bezug für die SchülerInnen.

Wie erkennt man die Verbindung zum Prätext?

Zunächst erscheint es möglicherweise schwierig, das Bilderbuch einem Märchen zuzuordnen. Dennoch lassen sich einige Hinweise finden, dass das Bilderbuch auf das Märchen von Rotkäppchen verweist. 

Ein direkter Hinweis lässt sich in den Paratexten finden. Beispielsweise beinhaltet der Titel Wörter wie "Großmutter", "Wolf" und "Angst". Zusätzlich sind die Wörter "Großmutter Wolf" in roter Schrift auf der Titelseite hervorgehoben, wodurch eine erste Verbindung zu dem Prätext hergestellt werden kann. Die Wörter lassen eine Verbindung mit dem Prätext von Grimms Rotkäppchen zu, da diese Komponenten ebenfalls in Grimms Märchen vorzufinden sind und rufen bei dem oder der LeserIn Spannung hervor, inwiefern das Bilderbuch nun mit dem Märchen übereinstimmen wird.

Ähnlich ist auch, dass die Wolfsgroßmutter in einem Haus im Wald lebt, wie es ebenfalls in dem Märchen von den Brüdern Grimm erzählt wird. Ebenso wie Rotkäppchen begeben sich die Tiere auf den Weg durch den Wald zu der Großmutter. Das Größenverhältnis der Charaktere stimmt ebenfalls mit dem Prätext überein. Während sowohl die Tiere im Bilderbuch, als auch Rotkäppchen eher klein dargestellt werden, vermittelt die Wolfsgestalt in beiden Texten einen riesigen Eindruck. Die Tiere im Bilderbuch werden allerdings nicht eindeutig benannt. Eine Ausnahme ist die Bezeichnung der alten Wölfin als "Großmutter Wolf" (Brown, 2001, S.  2 f.), durch welche eine Verbindung zu dem Prätext auf Textebene vermittelt wird. 

Einen eindeutigen Verweis auf den Prätext findet sich auf der letzten Seite, auf welcher zu sehen ist, dass die Wolfgroßmutter den Tierkindern ihre Lieblingsgeschichte vorliest. Auf den Seiten des Buches ist ein Mädchen mit einem roten Mantel zu sehen, welches mit dem Rücken zum Betrachter steht und impliziert, dass die Lieblingsgeschichte der Tierkinder das Rotkäppchen Märchen ist. Dieser explizite Verweis wird ausschließlich auf der Bildebene übermittelt. Erinnernd an ein Märchen verhält sich zudem die wiederholte Frage der Tiere auf jeder Seite: "Sag, wie spät ist es, Großmutter Wolf?" (Brown, 2001, S. 2 f.). Durch die Wiederholung wird auf die textcharakteristischen Merkmale eines Märchens verwiesen.  

Im Rotkäppchen Märchen sind dem gegenüber märchencharakteristische Redewendungen wie "Es war ein mal..." (Grimm, 1812) zu finden. Auch wenn in dem Bilderbuch keine klassischen Textmerkmale zu finden sind, bekommt der/ die RezipientInnen durch die Regelhaftigkeit einen märchenhaften Eindruck von der Geschichte.

Brown, Ken. (2001). "Wer hat Angst vor Großmutter Wolf?", Cover

Quellen