Gattungsvorstellungen entwickeln 

Ist das noch ein Märchen?

Warum sollten sich die Kinder in der Schule mit Gattungsvorstellungen von Märchen beschäftigen? 

Nach dem Hessischen Kultusministerium (2011) sollen die Schüler*innen in der Primarstufe die Kompetenzen „Lesen und Rezipieren – mit literarischen und nichtliterarischen Texten / Medien umgehen“ (Hessisches Kultusministerium, 2011, S. 13) erwerben. Dabei setzten sich die Lernenden lesend mit der Welt auseinander und erfahren, dass Lesen Vergnügen bereiten kann (Hessisches Kultusministerium, 2011). Einerseits werden Lese- und Rezeptionstechniken gezielt entwickelt und eingesetzt, andererseits wird Grundlagenwissen zu Texten / Medien und deren Inhalt und Strukturen erworben (Hessisches Kultusministerium, 2011). Dabei sollen die Texte auf Grundlage der entsprechenden Kriterien beurteilt werden (Hessisches Kultusministerium, 2011). Nach dem Hessisches Kultusministerium (2011) lernen die Schüler*innen durch die Auseinandersetzung mit lyrischen und epischen Texten, wie Märchen, inhaltliche und formale Aspekte von Textsorten kennen. Über die Textsortenkenntnis wird der Zugang zu Aussage und Wirkung des Textes erleichtert (Hessisches Kultusministerium, 2011). Die Behandlung der Gattung „Märchen“ ist demnach ein wichtiger Bestandteil des Deutschunterrichts in der Grundschule.


Doch welche Merkmale sind nun wirklich wichtig, dass ein Märchen auch wirklich ein Märchen ist? 

Reinemer (2011) hat sich mit dem Wesen und der Bedeutung des Märchens auseinandergesetzt und bezieht sich auf die Definition von Max Lüthi. Das erste Merkmal eines Märchens ist die Eindimensionalität. Nach Lüthi unterscheidet das Märchen zwischen Gestalten und handelnden Personen, beispielsweise sind Hexen, Zauberer und Zwerge Gestalten und der Märchenheld eine handelnde Person. Das zweite Merkmal ist die Flächenhaftigkeit, das Märchen verzichtet auf jede Tiefengliederung und die Figuren und Gestalten sind ohne Körperlichkeit, ohne Innenwelt und ohne Umwelt. „So ist die gesamte Aufmerksamkeit auf den Handlungskern konzentriert. Gefühle werden nur erwähnt, wenn sie zur Handlung beitragen“ (Reinemer, 2011, S. 34). Ein weiteres Merkmal nach Lüthi sind die Isolation und die Allverbundenheit. Die Figuren und die Handlungsstränge sind isoliert und jede Episode ist in sich geschlossen. Das letzte Merkmal ist der abstrakte Stil von Märchen durch starre Formeln, wie „Es war einmal“ (Reinemer, 2011, S. 35). Nach diesen Merkmalen kann man Texte untersuchen, um ein Märchengehalt zu entdecken. 

Für Schüler*innen der Grundschule lassen sich jedoch andere Merkmale finden, die für die Gattung der Märchen genannt und gelernt werden. Märchen haben immer einen Anfang und ein Ende, die meistens durch festgelegte Redewendungen gekennzeichnet sind. Dann werden oft magische Orte, Gegenstände und Sprüche verwendet. Meistens lassen sich Zahlen finden, wie bei den "7 Zwergen". Es gibt Figuren, die gegensätzliche Eigenschaften haben, wie böse und gut oder reich und arm. Tiere können menschliche Eigenschaften haben und beispielsweise sprechen. Diese Merkmale kann man in der Grundschule verwenden. 


Sind originale Märchen noch zeitgemäß für den Unterricht? 

Obwohl Märchen mit ihren Gattungsmerkmalen den Deutschunterricht der Grundschule bereichern können, stellt sich seit langem immer wieder die Frage, ob Märchen noch zeitgemäß sind. Bereits seit den 70er Jahren gibt es Tendenzen, dass alte Geschichten umgeschrieben werden müssen. Sie verwenden nicht mehr zeitgemäße Sprache, sind brutal und werden als Aberglaube abgestempelt (Erlewein, 2021).

Auch wenn sich die Art und Weise des Geschichtenerzählens verändert hat, findet man Geschichten auch heute noch. Man kann durch diese lernen und auf Erinnerungen stoßen (Erlewein, 2021). Auf dem Weg der Erzählungen findet man über klassische Märchen und Mythen auch Filme, Sociale Medien und ähnliches, sodass man überall erzählerische Strukturen entdecken kann (Erlewein, 2021). Dabei handelt es sich oft um alte Märchen in „modernem Gewand“ (Erlewein, 2021).

Demnach sind Märchen auf jeden Fall noch zeitgemäß und sie sollten in der Grundschule zu finden sein. Dabei sollten sowohl traditionelle Märchen genutzt werden, um ein Gattungsverständnis zu bilden, allerdings auch modernere Märchenbearbeitungen. Denn „Geschichten, Erzählungen und Zuhören sind ein Grundbedürfnis des Menschen“ (Erlewein, 2021) und somit sollten Märchen ein Bestandteil der kindlichen Erfanunhrung bleiben. 


Sollte man intertextuelle und intermediale Bearbeitungen von Märchen in der Grundschule nutzen?

Intertextuelle und intermediale Bearbeitungen können dabei helfen, die Gattung des Märchens sowohl in der Vergangenheit, als auch in der Gegenwart präsent zu halten. Schüler*innen können so durch intertextuelle und intermediale Märchenbearbeitungen die Gattung kennenlernen und die Gattungsmerkmale verstehen mit den Vorteilen moderner Sprache, Rollenbilder, Thematiken und noch vieles mehr. Intertextuelle und intermediale Märchenbearbeitungen sind für Kinder interessant und stellen ein Bindeglied zu der klassischen Gattung der Märchen dar. 



Unterrichtsansatz I 

Diese Unterrichtsstunde ist für eine dritte Klasse konzipiert und soll an vorausgegangene Unterrichtsstunden anschließen, in denen sich die Klasse bereits intensiv mit der Textgattung Märchen beschäftigt hat. In der letzten Stunde hat die Klasse anhand verschiedener, bekannter Märchen der Gebrüder Grimm die typischen Gattungsmerkmale, wie bereits weiter oben im Text genannt, von Märchen herausgearbeitet und besprochen. Ziel dieser Stunde soll es sein, die Gattungsmerkmale von Märchen zu verinnerlichen und die Erkenntnis zu gewinnen, dass Märchen medial aufbereitet werden können und nicht nur in Textform existieren. Als Unterrichtgegenstand, anhand welchem diese Ziele erreicht werden sollen, dient der Comic zum Märchen Rotkäppchen aus "Rotraut Susanne Berners Märchencomics" (Berner, 2015). 

Einstieg:

Um sich das Thema der letzten Stunden wieder ins Gedächtnis zu rufen, wird zu Beginn der Schulstunde ein Sitzkreis gebildet und die letzte Unterrichtseinheit kurz von den Schüler*innen zusammengefasst. Im nächsten Schritt ist es die Aufgabe der Schüler*innen, die in den letzten Stunden erarbeiteten Gattungsmerkmale von Märchen zu nennen und zu sammeln. Um die Merkmale festzuhalten, sollte in der Mitte des Sitzkreises ein Tisch mit Zetteln und Stiften bereitstehen. So kann jedes genannte Merkmal von dem jeweiligen Kind auf einen einzelnen Zettel geschrieben werden. Sobald alle Merkmale gesammelt und besprochen wurden, kann die Lehrkraft folgende Impulsfrage in den Raum werfen:

Denkt ihr, dass es auch möglich ist, die Kriterien eines Märchens in einer anderen Form als in Textform zu erfüllen?

Hierzu können die Beiträge der Schüler*innen zunächst wertungsfrei gesammelt werden. Es kann damit gerechnet werden, dass bereits einige Kinder beispielsweise Erfahrungen mit Märchenfilmen oder Bilderbüchern gesammelt haben. Die Schüler*innen sollten dann zum Nachdenken darüber angeregt werden, ob in diesen Märchenbearbeitungen die eben besprochenen Gattungsmerkmale noch eingehalten werden.

Arbeitsphase 1:

Nach dieser Phase des Austauschs wird dann der Sitzkreis aufgelöst und die Kinder kehren an ihre Sitzplätze zurück. Die Lehrkraft hängt währenddessen die Zettel mit den Merkmalen gut sichtbar auf und projiziert einen Comic zum Märchen Rotkäppchen aus der Sammlung "Rotraut Susanne Berners Märchencomics" an die Tafel. Mit diesem bekannten Märchen sollten sich die Kinder bereits im Unterricht beschäftigt haben, sodass sie den Comic mit dem Originaltext der Gebrüder Grimm vergleichen können. Nachdem den Schüler*innen genug Zeit gelassen wurde, den Comic aufmerksam zu betrachten und zu lesen, folgt der nächste Arbeitsschritt:

Welche typischen Gattungsmerkmale von Märchen könnt ihr in diesem Comic entdecken?

Gibt es Merkmale, die wir gesammelt hatten, die hier fehlen?

Diese Fragen können die Kinder mit Hilfe der von ihnen vorgefassten Zettel mündlich im Plenum beantworten. Nach dieser Phase des Austauschs erfolgt dann der Hauptarbeitsauftrag der Unterrichtsstunde. 

Arbeitsphase 2:

In dieser Arbeitsphase sollen die Schüler*innen nun entweder selbst ein Märchen ihrer Wahl in einen Comic umschreiben und dementsprechend illustrieren oder sich ein eigenes Märchen ausdenken und als Comic gestalten. Der Fokus der Kinder soll dabei darauf liegen, die Gattungsmerkmale von Märchen, die immer noch gut sichtbar als Orientierungshilfe für alle Kinder bereithängen, in ihren Comic einzubauen.

Die Stunde kann damit abgeschlossen werden, dass einige Schüler*innen freiwillig ihre Comics vor der Klasse präsentieren dürfen. Gemeinsam prüfen die Kinder dann, welche der Merkmale in den jeweiligen Comic integriert wurden.

Unterrichtsansatz II 

Auch diese Unterrichtsstunde soll an bereits vorangehende Stunden zu dem Thema der Gattungsmerkmale von Märchen anknüpfen und eignet sich für eine Doppelstunde. Auf der Grundlage von bereits ausgearbeiteten Gattungsmerkmalen, die in den Stunden davor anhand von bekannteren Märchen der Gebrüder Grimm behandelt wurden, sollen die Schüler*innen in dieser handlungsorientierten, kreativen Unterrichtsidee selbst aktiv werden. Mit dem erworbenem Wissen über die Merkmale von Märchen, sollen die Kinder in Gruppenarbeit auf Grundlage des Comics zum Märchen Rotkäppchen aus "Rotraut Susanne Berners Märchencomics" (Berner, 2015) eigene Märchenbearbeitungen entwickeln und diese in einem kleinen Film aufnehmen. 

Einstieg:

Um die herausgearbeiteten Merkmale der letzten Stunde noch einmal zu wiederholen, kommen alle Schüler*innen im Sitzkreis des Klassenraums zusammen. Nun werden alle Lernenden aufgefordert, unter ihre Sitzplätze zu schauen. Manche der Kinder werden einen Satz oder Begriff bezüglich des Themas Märchen finden, den sie an die Tafel heften und in eigenen Worten erklären können. Weiß ein Kind nicht weiter, dürfen die Klassenkamerad*innen oder die Lehrkraft helfen. Die Begriffe werden so der Reihe nach durchgegangen, noch einmal besprochen und gut sichtbar an der Tafel angeordnet.

Je nach Leistungsstand der Klasse, könnten zu den Begriffen unter den Stühlen weitere, ein wenig anspruchsvollere Begriffe hinzugefügt werden, die nicht zu dem Thema passen. So müssten sich die Kinder daran erinnern, welche der Begriffe tatsächlich die Gattungsmerkmale für Märchen beschreiben und welche nicht zu diesem Thema passen.

Arbeitsphase:

Sind die Gattungsmerkmale an der Tafel fixiert, kann zum eigentlichen Thema der Stunde übergegangen werden. Die Schüler*innen werden, abhängig von der Klassengröße, in Gruppen von etwa 4-6 Schüler*innen eingeteilt und dürfen sich gesammelt in den Gruppen wieder hinsetzen. Die Lehrkraft kann nun folgende Impulsfrage stellen: 

Welche Figuren, Dinge oder Motive finden wir in dem Comic von "Rotkäppchen" ?

Jede Gruppe darf für etwa fünf Minuten über Figuren, Motive oder Dinge reden, die ihnen spontan zu dem Comic einfallen. Alle Begriffe, über die die Kinder in den Gruppen gesprochen haben, werden daraufhin im Plenum gesammelt. Wahrscheinlich werden Begriffe wie „Wolf“, „Großmutter“, „Wald“, möglicherweise aber auch Begriffe wie „Mut“ oder „Angst“ fallen. Die Lehrkraft sollte alle Beiträge an der Tafel neben den Gattungsmerkmalen sammeln. Dann folgt der nächste Arbeitsschritt: 

Überlegt euch in der Gruppe eine Geschichte, in der mindestens drei Figuren, Motive oder Dinge aus "Rotkäppchen" vorkommen. Spielt die Geschichte nach. Achtet dabei darauf, dass es wirklich ein Märchen ist und filmt sie zum Schluss.

Die Gruppen ziehen sich in verschiedene Ecken des Klassenzimmers - wo möglich auch im Schulgebäude- zurück und überlegen sich in einem ersten Schritt ein Märchen, das Elemente des Märchens „Rotkäppchen“ beinhaltet und durch Form und Erzählweise sofort als Märchen erkannt werden kann. Daraufhin sollen die Schüler*innen dieses Märchen nachspielen und anschließend dürfen sie sich, je nach technischer Ausstattung der Schule, mobile Endgeräte holen, die über eine Kamerafunktion verfügen und dieses Märchen als Video aufnehmen. Eine Kamera oder das Handy der Lehrkraft wären auch möglich.

In der darauffolgenden Stunde kann jede Gruppe ihr Video in der Klasse präsentieren. Im Anschluss eines jeden Videos können die Schüler*innen gemeinsam mit der Lehrkraft darüber reflektieren, inwiefern in den Videos ihrer Klassenkamerad*innen märchenhafte Elemente und Merkmale erkennbar sind.

Weitere passende Gegenstände 


→ "Ein skurriles Comedy-Stück mit viel Power und Spielspaßpotential", das auch die Auswüchse des modernen Schönheitswahns aufs Korn nimmt. Geeignet für die 4. Klasse mit 8 bis 22 Spieler*innen als intermediale Bearbeitung für den Unterricht. Hierbei kann untersucht werden, ob Märchenmerkmale auch in einem Theaterstück berücksichtigt werden können und ob diese intermediale Bearbeitung denn wirklich noch klassische Märchenmerkmale aufweist. 

https://theaterstuecke-online.de/shop/schneewittchen-und-die-rapperzwerge-abk4/


→ Mit dem Video, in dem ausschließlich Bildern zu dem Märchen gezeigt werden, können Schüler*innen selbst einen passenden Text entwerfen. Dafür müssen die Gattungsmerkmale von Märchen bekannt sein und beim Schreiben des Textes beachtet werden. 

https://www.onilo.de/boardstory/grimms-maerchen-ohne-worte-der-froschkoenig


→ Intertextuelle Bearbeitung des Märchens Dornröschen. Gut geeignet für die Grundschule als Vorlesebilderbuch, um das Thema Depressionen zu behandeln. Im Buch werden diese als tiefe Traurigkeit benannt. Dabei werden aktuelle Themen, wie das sich ändernde Frauenbild mit traditionellen Königsfamilien verbunden. Außerdem kann man hier erkennen, dass der Inhalt zwar von einem Märchen ausgeht und Märchenelemente enthalten bleiben. Trotzdem ist es ein Bilderbuch mit einer Geschichte. 

https://www.monterosa-verlag.de/buch/dornroeschen-faehrt-achterbahn/


Quellen