„Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“

von Paul Hey

Worum geht es?

Das Gemälde „Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“ von Paul Hey zeigt eine Szene aus dem gleichnamigen Tiermärchen, das 1812 in der ersten Auflage der „Kinder- und Hausmärchen“ von Jacob und Wilhelm Grimm veröffentlicht wurde. Das Bild entstand um 1900 und wurde bisher in verschiedenen Märchenbüchern veröffentlicht. Die Szene in der Illustration spielt sich in einem Innenraum mit Holzdielen, einem Bett, einer dunkelbraunen Wand und einer hellbraunen Standuhr ab. Mittig fällt dem Betrachter zunächst ein brauner Wolf mit dunkelorangenen Augen auf. Die Rute des Wolfs zeigt nach links oben, während sein Kopf in Richtung Boden zeigt. Dort scheint der Wolf ein weißes Lamm zu beißen und hat seine linke Pfote auf dem hals der jungen Ziege liegen. Unten links, vor einem Holzeimer, rennen zwei weitere Zicklein nach links vorne. Sie haben die Augen und Münder aufgerissen. Ein weiteres versteckt sich unter dem grünen Bett und eines unter der rosafarbenen Bettdecke auf dem Bett. Ein weiteres Geißlein rennt nach rechts, das siebte springt in den Uhrenkasten. Die Szene zeigt den Moment, in dem es dem Wolf im dritten Versuch gelingt, die Zicklein auszutricksen und in das Haus stürmt, um die Ziegenkitz zu fressen.

Mit welchen medialen Inszenierungstechniken erzählt das Märchen?

Die typische Erzählweise des Mediums Gemälde grenzt sich von den häufig genutzten Medien Text, Film und Hörspiel ab. Eine einzelne Illustration zeigt meist nur eine Szene oder Handlung eines ganzen Handlungsstranges, selten eine ganze Geschichte. Das Bild kann für sich alleinstehen oder im Zusammenhang mit Text stehen. Im zweiten Fall hilft das Bild dem oder der Leser*in, die Handlung zu erschließen und die vermittelte Stimmung zu präsentieren. Besonders Kindern helfen Illustrationen neben dem Text, eine Vorstellung der Szenerie und der Abläufe aufbauen zu können. Steht das Bild für sich allein, wie in diesem Fall, ist der Zweck des Bildes eine ästhetische Darstellung. Hier wird eine Szene des Märchens „Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“ dargestellt.

Das Medium Gemälde erzählt dadurch, dass es eine ganz bestimmte Stimmung erzeugen kann und die dazugehörige Szene visualisiert. So löst das Bild bei dem/der Betrachter*in oft aus, dass dieser die Stimmung wahrnimmt und über die dargestellte Handlung nachdenkt und mit eventuellem Vorwissen verknüpft. Eine einzelne Illustration selbst erzählt also nur ein Stück eines ganzen Texts (in diesem Fall eines Märchens), hat aber ganz eigene Möglichkeiten Stimmung und Atmosphäre zu kreieren. 

Für die Atmosphäre sind ebenfalls die verwendeten Farben von Bedeutung. In dem Gemälde „Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“ sind eher gedeckte Farben verwendet worden. Das viele Braun und Grau im Bild lässt die Szenerie zunächst eher düster und traurig wirken. Trotzdem wirkt das Bild belebt, da die aufgerissenen Augen der Ziegenkitze links vorne Angst und Panik signalisieren, während das Geißlein unter dem Bett ängstlich in die Richtung des Wolfs schaut. Das weiße Tier im Maul des Wolfs scheint zudem aufzuheulen. Besonders lebhaft scheint der Wolf in der Mitte, der sehr groß im Bildformat platziert ist und daher bedrohlich auf den Betrachter wirkt. Durch seine aufgerissenen dunkelorangenen Augen können ihm Attribute wie gierig und gefährlich zugeschrieben werden. Der Hintergrund des Gemäldes und die Ecken sind zudem (teilweise nur leicht) abgedunkelt, was eine bedrohliche Atmosphäre erzeugt. Durch die eher dunklen Farben, die leichte Vignettierung und die detailreichen Gesichtsausdrücke der Tiere wird somit eine traurig-belebte, zugleich aber auch sehr bedrohliche Stimmung erzeugt.

Das Gemälde ist zunächst nicht direkt an eine bestimmte Personengruppe adressiert. Man kann jedoch annehmen, dass der Künstler Paul Hey das Gemälde (das sich in eine ganze Reihe von Märchenillustrationen einordnen lässt) für Märchensammlungen anfertigte. Steht das Bild für sich allein, dann spricht es aufgrund der eher brutalen Szenerie märchen- und kunstbegeisterte ältere Kinder und interessierte Erwachsene an. In einem Märchenbuch dagegen würde das Bild sicherlich auch an jüngere Kinder adressiert sein. Durch die von Paul Hey realistische Darstellung der Märchenszene ist vorstellbar, dass er sein Gemälde für Autor*innen von Märchenbüchern und demnach für die Leser*innen dieser Zusammenstellungen anfertigte. Im Bild selbst gibt es keine direkten Hinweise auf eine Adressierung bestimmter Menschengruppen.

Wie wird die Geschichte verändert?

Da das Gemälde nur eine Handlung im Märchen „Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“ zeigt, sind auch nicht alle Figuren zu sehen. Man kann mittig den Wolf und im Raum verteilt die sieben Ziegenkitze sehen. Die alte Geiß, die Mutter der kleinen Tiere ist nicht zu sehen, tritt aber im Prätext zu der dargestellten Handlung ebenfalls nicht auf. Im Bild selbst lässt sich kein Hinweis darauf finden, dass der Wolf die sieben Geißlein getäuscht hat, indem er sich mit Kreide die Stimme an die der alten Geiß anpasste und mit Mehl die Pfote weiß machte. Eine weiße Pfote ist nicht am Wolf zu erkennen. Im Prätext heißt es: „Das eine sprang unter den Tisch, das zweite ins Bett, das dritte in den Ofen, das vierte in die Küche, das fünfte in den Schrank, das sechste unter die Waschschüssel, […].“ (Grimm, 1812). Hier findet sich in dem Gemälde eine Abweichung, da lediglich zu sehen ist, wie sich ein Lamm im Bett versteckt. Man kann keine der anderen im Prätext genannten Verstecke erkennen, nur die Waschschüssel steht ganz links im Bild, allerdings ohne ein Geißlein in ihr. Auch steht im Prätext nicht, dass sich ein Schaf unter dem Bett versteckt, was in dem Gemälde jedoch zu sehen ist. Zudem gibt das Bild einen Hinweis auf den weiteren Verlauf des Prätexts. Man sieht hinten rechts, wie sich eines der kleinen Schafe in dem Kasten der Wanduhr versteckt und so dem Wolf entkommen und später zusammen mit der Mutter die Geschwister retten kann. 

Der Ausgang der Geschichte, dass der Wolf, nachdem die Ziegenkitz befreit wurden, in den Brunnen stürzt, deutet sich in dem Gemälde nicht an. Im Gegensatz zu dem Prätext werden die Tiere in dem Gemälde nicht anthropomorphisiert. Sie tragen keine menschliche Kleidung oder zeigen andere menschliche Züge im Zusammenleben oder der Kommunikation. Lediglich das Umfeld wie Bett und Uhr lässt auf die Anthropomorphisierung der Geißlein schließen. Die realisitisch gemalten Tiere in menschlich geschaffener Umgebung stellen einen starken Kontrast da. Vorstellbar ist, dass Paul Hey genau diesen absurden Kontrast hervorrufen wollte, aber auch die im Märchen beschriebene Szene realistisch darstellen wollte. Hier steht deutlich die Ästetik im Vordergrund. 

Die Geschichte bzw. Handlung des Prätexts wird somit eingeschränkt gezeigt, die dargestellte Szene verändert sich jedoch nur minimal und ist größtenteils sehr realistisch und textnah. 

Wie erkennt man die Verbindung zum Prätext?

Das Gemälde von Paul Hey "Der Wolf und die sieben jungen Geislein" zeigt eine Szene aus dem gleichnamigen Märchen der Grimm-Brüder. Kennt man das Märchen, oder hat man bereits von diesem gehört, ist deutlich erkennbar, dass das Gemälde auf einem Märchen basiert, da die dargestellte Szene eine der wahrscheinlich einprägsamsten Momente des Märchens ist. Zählt man die Geißlein, die genau sieben Stück sind, kann man ebenfalls vermuten, dass das Bild auf einem Märchen basiert, da in vielen Volksmärchen den Zahlen eine hohe Bedeutung zugeschrieben wird. Kennt man das Märchen jedoch nicht, dann ist vorstellbar, dass keine Verbindung zu diesem geschlossen werden kann. Die Verbindung vom Gemälde zu dem Prätext wird nicht nur durch die dargestellte Szene, sondern vor allem auch durch den Titel des Bildes geschaffen, das mit dem der Märchenvorlage übereinstimmt. Direkt übernommen wurden in dem Gemälde die Zahl der Geißlein, jedoch ist, wie bereits gesagt, keine Anthropomorphisierung der Tiere erkennbar. Die Ziegen scheinen sich wie "normale" Tiere zu verhalten. Ohne den Prätext allerdings wäre nicht eindeutig, ob die Schafe dort leben oder nicht. Zudem ist auffallend, dass die jungen Schafe und ihre Umgebung in dem Gemälde deutlich detailgetreuer sind als es im Prätext der Fall ist. Man kann die Fellfarbe der einzelnen Geißlein, die bunten Möbel sowie die dunkelorangenen Augen des Wolfes sehen, was in dem Märchen der Brüder Grimm nicht weiter beschrieben werden. Hier wirkt das Bild deutlich auskunftsreicher als der Prätext. Dieses ist auch den Umständen geschuldet, dass der Illustrator nur bestimmte Informationen zur Verfügung hat und demnach weitere Aspekte (zum Beispiel die Fellfarben) hinzufügen muss, um die Szene in einem Bild darstellen zu können. Durch die Visualisierung des im Prätexts beschriebenen wird ein Bild kreiert, dass eine detailreiche Szene zeigt und in Verbindung mit dem Märchen der Brüder Grimm ein Stück weit die eigene Vorstellungskraft hemmt, da einem bereits ein Bild geboten wird und dieses nicht mehr im Kopf entstehen muss bzw. kann. Das Gemälde zeigt demnach ein sehr realistisches Abbild eines Ausschnitts des Prätexts, was besonders detailreich ist und auch den weiteren Verlauf des Märchens erahnen lässt.


"Der Wolf und die sieben jungen Geislein" von Paul Hey

Quellen