Schneewittchen und die sieben Zwerge

Stephan Kalinski (Text), Ian Botterill (Illustration)

Worum geht es?

Die Neuinterpretation von "Schneewittchen und die sieben Zwerge" von Stephan Kalinski und Ian Botterill erzählt von einem sehr mutigen Mädchen, das aufgrund ihrer Tapferkeit von ihrer Stiefmutter beneidet wird. Schneewittchen muss sich mit den klassischen Begebenheiten von Grimms Märchen auseinandersetzen, alle Figuren, denen sie begegnet, haben in dieser Version jedoch tiefgründigere Charakterzüge und sind durch neue Zuschreibungen und Hintergründe aktualisiert. Eine Zwerg*innenschaft, die aus verschiedenen Regionen der Welt stammt und ein schwarzer, mitfühlender Prinz sind dabei die Unterstützer*innen von Schneewittchen in der Auseinandersetzung mit der einst freundliche Stiefmutter.  

Wie sind Bilder gestaltet?

Text und Bild in der Neuinterpretation von "Schneewittchen" stehen einem komplementären Verhältnis. Die beiden werden somit von einander ergänzt. Der Text erhält zumeist mehr Informationen über die Motivationen, auch wenn auf den Bildern Gefühle durch Gesichtsausdrücke und Tränen verdeutlicht werden. Die Handlung wird auf der Textebene vorangetrieben, während die Bilder verschiedene Schlüsselmomente und Szenerien genauer verdeutlichen.

Die meisten Bilder sind auf einer einzelnen Seite abgebildet. Besonders starke Momente der Erzählung, wie zum Beispiel die Waldszene, in der der Jäger aufgrund des Auftrages der Stiefmutter das Schneewittchen töten muss und ihre List zur eigenen Rettung, erstrecken sich jedoch auf Doppelseiten. Es gibt eine kleine Binnenhandlung auf bildlicher Ebene, in der das Schneewittchen vom Vater Lesen und Schreiben und Zeichnen lernt, bei der vier Bilder comicartig auf einer Seite zu sehen sind. Dies dient dazu, um einen längeren Zeitraum bildlich abzudecken, so wird Schneewittchen in dieser Binnenhandlung erwachsen. Auch werden klassische Fragen der Zwerg*innen, z.B. "Wer hat von meinem Tellerchen gegessen" u.w., auf einer Seite mit sechs Bildern der jeweiligen Zwerg*innen zusammengefasst, was dazu dient, die Zwerg*innen mit Namen und Bild genauer vorzustellen. Zumeist aber stehen auf jeder einzelnen Bildseite etwa 12-15 Sätze.

Die Bilder sind farbenfroh und erzeugen eine freudige Stimmung. Auch in bedrohlichen und traurigen Momenten des Märchens  bleibt die Bildsprache eher verspielt, die Figuren sind dabei jedoch entsprechend ihrer emotionalen Zustände gezeichnet. Die Figuren sind ausnahmslos in einer Art gezeichnet, die Leser*innen dazu animiert, mit ihnen zu sympathisieren. Die Stiefmutter, die besorgt ist, nicht genug Anerkennung für ihre Fähigkeiten zu erhalten, wird an manchen Stellen traurig und erschüttert gezeichnet; der Jäger blickt seiner Entscheidung wehmütig entgegen. Es wird somit eine mitfühlende Stimmung erzeugt, die es schafft, dass man sich in die Lage der Personen versetzt.

Mit der Bildsprache, die von den expressiven Figuren lebt, werden meines Erachtens eher Kinder im frühen-mittleren Grundschulalter adressiert. Auch wenn die Bilder als farbenfroh und freudig einzustufen sind, verlangen die Bilder ein Verständnis über Emotionen.  Die Bildsprache könnte jedoch auch im Unterricht Gesprächsanlass dafür bieten, um Emotionen mit Kindern genauer zu besprechen.


Wie wird die Geschichte verändert?

Die größte Abweichung ist, dass sich Schneewittchen nicht durch ihre Schönheit, sondern durch ihren Mut auszeichnet. Der Mut statt die Schönheit wird damit das für das Märchen tragendste Element. So wird Mut ebenfalls als die Eigenschaft beschrieben, die die Königin am meisten schätzt. Die Königin ist damit keine rein eitel, herrschsüchtige Königin, sondern eine Frau, die für ihre Taten Anerkennung verlangt. Während die Rahmenhandlung die gleiche zu dem Prätext ist, verändern sich dadurch der Blick auf die einzelnen Hauptfiguren. 

Generell werden die Figuren vollwertiger und nuancierter dargestellt: Der Prinz ist nicht nur kühn, sondern auch mitfühlend und empathisch. Schneewittchen hat nicht nur Augen so blau wie der Himmel, Lippen so rot wie Blut, Haare so schwarz wie Ebenholz, sondern ist mutig, arbeitsam und wissbegierig, die Königin ist nicht einfach nur böse, sondern war man freundlich, fürchtet um ihre Anerkennung. Mit dem Jäger, im Unterschied zu Grimm Märchen, hat Schneewittchen aus Kindertagen eine tiefe Verbindung, weshalb er selbst weint, als er Schneewittchen bedrohen muss. Auch er wirkt dadurch empathischer, blickt liebevoll nach auf die Zeit mit Schneewittchen zurück.

Die Figuren sind neben dem komplexen Innenleben und Charaktereigenschaften in der Form aktualisiert, dass sie unterschiedliche Hautfarben und kulturelle/ethnische Hintergründe haben. Schneewittchens Hautfarbe wird somit nicht thematisiert. Die dritte äußerliche Eigenschaft, die Haut, die so weiß wie Schnee ist, wird durch die Augenfarbe ersetzt. Auch die Zwerge aus dem Prätext haben, neben dessen, dass es sich in der Interpretation um männliche und weibliche Zwerg*innen handelt, unterschiedliche kulturelle Hintergründe. Zusätzlich sind die Zwerg*innen Stellvertreter für verschiedene Regionen auf der Welt. Die kulturelle und ethnische Diversität wird in Bild und Textformen aufgegriffen, jedoch, nur wenn nötig angesprochen.  Es wird damit ein Weltbild der kulturellen und ethnischen Vielfalt geschaffen, dass es so in dem Prätext nicht gibt. 

Eine weitere Abweichung ist, dass das Ende der Figuren vielschichtiger gestaltet ist: So beschließen Schneewittchen und der Prinz, nach dem sie sich gefunden haben, die Welt zu entdecken. Ihre Vereinigung und das Gespräch ist auf dem Bild 1 zu sehen. Die Königin verspürte, nachdem der Apfel aus Schneewittchens Kehle gefallen war, einen stechenden Schmerz und blieb bis zum Ableben in einer dunklen Ecke des Schlosses. 

Ein Großteil der Abweichung ist nur auf Textebene zu erschließen, so erfährt der Lesende nur auf Textebene vom Mut als tragendste Eigenschaft. Trotzdem können insbesondere Gefühlshaltungen, die es im Prätext nicht gibt, sich an den Bildern ablesen werden. Die Nuancen und Komplexität der Figuren lassen sich so sowohl durch Bild und Text erkennen.

Wie erkennt man die Verbindung zum Prätext?

Es ist unter anderem direkt durch den Titel, der exakt derselbe wie in Grimms Märchen ist, erkennbar, dass das Bilderbuch "Schneewittchen" auf Grimms Märchen basiert. Ebenfalls sind die Personennamen identisch zum Original und die berühmten Fragen der Zwerg*innen sind als deckungsgleiche Zitat zu lesen. Auch kann das hier vorgestellte Buch weiterhin als Märchen gewertet werden, so verändert die Neuinterpretation keine der märchenhaften Elemente, wie zum Beispiel die Einleitungsformel, die Formeln innerhalb des Märchens und den magischen Gegenstand.

Die Rahmenhandlung unterscheidet sich nur durch verschiedene Ergänzungen, wie zum Beispiel das Ende, zum Prätext und ist damit als Aktualisierung, nicht als komplette Überarbeitung zu deuten. Die Erzählinstanz ist dabei dieselbe, die Figuren sind tiefgehender mit Hintergrundgeschichte versehen. Dies verändert in leichter Form die Konstellationen, zum Beispiel zwischen dem Jäger und Schneewittchen, jedoch bleibt dabei Struktur und die tragenden Momente des Märchens erhalten und wird auch über die Veränderungen hinweg erkennbar.

Die Verbindung zum Prätext wird nicht selbst im Text, sondern im Paratext thematisiert. Hier beschreibt der Autor, dass er gemeinsam mit seiner Tochter abends oft Märchen las und dabei auffiel, dass Prinzessinnen immer gerettet werden müssen und sich durch Schönheit auszeichneten. Es wird damit eingeordnet, dass der Autor, dem etwas entgegensetzen wollte. Durch den Paratext wird das Ursprungsmärchen kommentiert und auch kritisiert. Die Bezüge zum Prätext sind damit klar markiert und beabsichtigt umgesetzt. 

Die intertextuellen Verweise richten sich dabei sowohl an Kindern als auch an Erwachsene, so lässt sich die Idee, dass Prinzessinnen auch mehrschichtig und Prinzen auch mitfühlend sein können, sehr gut in allen Altersstufen, sofern Vorwissen über Märchen besteht, herauslesen.

Die Veränderungen, die die Neuinterpretation anstellt, sind auf die Bilder übertragen worden. Eine Überzahl an Bilder sind wie beschrieben zum Text komplementär: Es werden so noch tiefergehend Bezüge zum Prätext, über die für Grimms Märchen adäquate Kleidung und durch die Konstellation König, Königin, Prinzessin, Stiefmutter, Jäger, Zwerg*innen und auch durch räumliche Begebenheiten, wie das Schloss, der Wald und das Haus der Zwerg*innen hergestellt. 

Die vorletzte Seite zeigt Schneewittchen, wie sie mit dem Prinzen, beim Ausrichten eines Festes, über ihre Zukunft spricht.

Quelle: Kalinski, S & Botterill, I. (2009)

Quellen